Wenn man von Weitem auf die Szenerie blickt, unterscheidet sie sich abgesehen vom Schwarz-Weiß der Aufnahmen, gar nicht mal so sehr von einem Zeltlager heutiger Tage. In einem weiten Dünental verteilen sich viele weiße Rundzelte im Kreis. In der Mitte befindet sich ein großer Freiplatz mit einer gehissten Fahne: ein typisches Zeltlager. Es unterscheidet sich äußerlich nicht wesentlich von dem, das etwa der Sportbund Niedersachsen aktuell jedes Jahr im Sommer am Fuß der Melkhorndüne für Jugendliche auf Langeoog organisiert. Nur das dieses ein ganz spezielles ist: Es ist das Zeltlager der Hitlerjugend, das die Nationalsozialisten 1936 im Pirolatal der Insel, direkt am Meer, aufgeschlagen hatten. Hier sollte der Nachwuchs geformt werden, ganz im Sinne der Partei-Ideologie.
Seit 30 Jahren leitet sie nunmehr die Geschicke des Historischen Museums in Aurich. Und man mag es gar nicht glauben, wenn man sie so zart, fast mädchenhaft, vor ihrem Büro in der Alten Kanzlei stehen sieht: Sie ist gerade 65 geworden, und in gut zehn Monaten, zum 1. September 2022, ist es tatsächlich so weit – sie geht ganz offiziell in Rente. In ihrem Fall ist der Ruhestand mehr als wohlverdient. Mit Brigitte Junge geht auch eine Ära zu Ende, sie hat für ihr Museum viele neue Wege beschritten und deutliche Spuren hinterlassen. Die Gelegenheit für Ostfriesland Reloaded, sich mit der großen Kennerin ostfriesischer Geschichte und Kultur zu unterhalten – so lange sie noch in Amt und Würden ist und unermüdlich wie gewohnt ihre Ausstellungen und zahlreichen Veranstaltungen plant.
Ostfriesland Reloaded im Gespräch mit Brigitte Junge
Ostfriesland Reloaded: Können Sie sich eigentlich noch an die Anfänge in Aurich erinnern, an Ihren Start als Leiterin des Historischen Museums?
Brigitte Junge: Sehr gut sogar. Ich war damals 34 Jahre alt und konnte nicht wie geplant zum Januar, sondern erst zum 1. März 1991 meine neue Stelle antreten. Ich hatte noch letzte Verpflichtungen in Delmenhorst, wo ich bei der Stadt angestellt war und ein Konzept für das noch zu gründende Stadtmuseum erstellte. Doch dann ging es sofort los! Nur wenige Wochen später, bereits am 20. April des Jahres, habe ich mit „Ostfriesland – Völsprakenland“ meine allererste Sonderausstellung als Museumsleiterin eröffnet.
Der Weg zu Sonderausstellungen weist im Historischen Museum der Stadt Aurich stets ganz nach oben, ins Dachgeschoss. Unter dem hohen Dachgiebel mit seinen freigelegten Holzbalken präsentiert das Museum auch „Dat löppt!“, seinen kulturhistorischen Rückblick auf die vielfältige und besondere Bedeutung von Wasser für Ostfriesland. In der Auricher Ausstellung läuft es ebenfalls – und zwar thematisch immer entlang des Ems-Jade-Kanals, Aurichs großer Wasserstraße, die die Stadt westlich mit Emden und östlich mit Wilhelmshaven verbindet.
Die Ausstellung erzählt mit vielen Schautafeln, Objekten und liebevoll bestückten Vitrinen von den Anfängen und ersten Plänen für einen Treckfahrtskanal von Aurich nach Emden, der immer wieder an der Finanzierung scheiterte, und schließlich nach mehreren Anläufen in nur zwei Jahren von 1798 bis 1800 gebaut wurde. Man erfährt so Manches über das prosperierende Aurich, das sein starkes Wachstum Ende des 19. Jahrhunderts und die Teilhabe am Welthandel auch diesem Kanal verdankte. Und man kann viel lernen über den weiteren, anstrengenden Ausbau der Wasserstrecke zum Ems-Jade-Kanal, der 1880 mit 700 Arbeitskräften auf Teilstrecken begann und zwischenzeitlich 6.000 bis 7.000 Menschen zählte. Sie hatten schwer zu kämpfen mit dem hohen Grundwasserspiegel, anhaltenden Regenfällen, Treibsanden und Erdrutschen. Es war harte Arbeit, bis die durchgehende West-Ost-Verbindung zu Wasser – von der Ems bis zur Jade und damit zwischen den beiden größten ostfriesischen Häfen – in Betrieb gehen konnte. 1888 wurde die lange Wasserader, die Ostfrieslands Binnenland nun komplett durchzog, eingeweiht.
Rasend unterwegs: Immer mit der Nummer 605 segelt Thomas Bents die Strandregatta.
Auf Langeoog mit seinem 15 Kilometer langen Traumstrand wird das Segeln auf Sand schon besonders lange gepflegt. Der Langeooger Strandsegler Club, 1984 gegründet, besteht seit mittlerweile 37 Jahren. In dieser Zeit haben die rasanten Regattafahrer:innen der Insel unzählige nationale und internationale Meisterschaften gewonnen. Bis heute wird hier im Verein gesegelt, was mittlerweile eine Seltenheit auf den Ostfriesischen Inseln geworden ist. Das ist vor allen Dingen dem persönlichen und jahrelangen Einsatz vieler engagierter Strandsegler Langeoogs zu verdanken. Einer von ihnen ist Thomas Bents, selbst ein äußerst erfolgreicher Regatta-Segler, der von den fünfziger und sechziger Jahren zu berichten weiß, als es auf der Insel bereits frühe Spielarten des Strandsegelns gab.
Das niedersächsische Wattenmeer (Foto: Andreas Klesse).
Seit genau zwölf Jahren bist Du nun UNESCO Weltnaturerbe – das Dutzend ist voll und das ist ganz wunderbar. Am 26. Juni 2009 wurde Dir dieser ganz besondere Ehrentitel offiziell verliehen, der wiederum uns Menschen dazu verpflichtet, Deine Einzigartigkeit in der Welt zu schützen. Über 10.000 Tiere und Pflanzen sind in Deinen Biotopen und Lebensräumen zu Hause. Du bist die Wildnis vor unserer Haustür, das nahrhafte Revier für Schweinswale, Kegelrobben und Seehunde im Wasser und für zwölf Millionen Zugvögel jährlich in der Luft.
Du bist einfach riesig: Auf fast fünfzehntausend Quadratkilometern erstreckst Du Dich über 500 Kilometer vor den Küsten der Niederlanden, Deutschlands und Dänemarks. Du verbindest Bundesländer, Nationen und Menschen. In Deinem Nordseereich, einem der letzten großflächigen Naturlandschaften Mitteleuropas, in der die geologischen und ökologischen Prozesse noch ganz unbeeinflusst von Menschenhand ablaufen, dürfen wir uns für kurze Augenblicke wieder wie Adam und Eva im Paradies fühlen.
Wir feiern Dich und danken Dir in diesem Jahr wieder mit ganz vielen Aktionen rund um Deinen Geburtstag: Wattwanderungen für die ganze Familie, sportliche Wattquerungen nach Baltrum und Norderney, Führungen zu Ebbe und Flut, stimmungsvolle Events im Sonnenuntergang. Eine eigene Webseite zum Geburtstag haben wir Dir auch eingerichtet: Hier gibt es den kompletten Überblick zu Deiner Geburtstagsparty.
Der UNESCO-Jahrestag lädt ein zum Lesen. Wie wär’s mit einem spannenden Buch zum Thema, das auch den Menschen im Wattenland noch viel Neues zu berichten weiß?
Das Wattenmeer ist ein wildes Stück Deutschland. Seit 2009 ist das Schwemmland im Norden, das sich von den Niederlanden bis nach Dänemark erstreckt, mit dem Titel UNESCO-Weltnaturerbe geadelt. Eine amphibische Landschaft, die von oben so schön ist wie das Mündungsdelta des Orinoco, heißt es. Das Buch nimmt Sie mit auf eine Reise in dieses Zwischenreich, nicht Land, nicht Meer, im ewigen Rhythmus von Ebbe und Flut, angezogen von gewaltigen kosmischen Kräften. Es erzählt von Spionage im Wattenmeer, von tragischen Unglücksfällen, kulinarischen Neuentdeckungen und spannenden Forschungsprojekten zu Klimawandel und Nachhaltigkeit. Ein Haufen Schlick? Mitnichten! Mehr Leben geht nicht.
13,5 x 20,5 cm, 240 Seiten
ISBN 978-3-7408-1081-8
Euro 16,95 [D] , 17,50 [AT]
Im April neu 2021 erschienen. Direkt zu kaufen hier oder beim Buchhandel.
Das Buch fällt schon ein bisschen heraus aus der meistens schreiend bunten Riege an Neuerscheinungen aus dem Emons Verlag: die „111 Dinge über das Wattenmeer, die man wissen muss“. Und der Titel verrät einem dann auch sofort, warum das so ist. Denn hier geht es um das Watt, im Original farblich eher dezent gehalten in sandbeige oder schlickgrau – und sofort zu erkennen am Cover, das ein welliger Wattboden ziert. Auf dem erhebt sich dann mittig auch ganz stilecht als glänzendes Relief ein kleiner Wattwurmhaufen. Der Clou dabei: Man kann ihn sogar fühlen!
Ein Spitzentitel. Das hatten sie in der Literaturagentur gleich gespürt: „Die Schule am Meer“ ist ein großer Wurf. Und sie sollten Recht behalten. Der Juist-Roman, mit dem Sandra Lüpkes in 2020 der Durchbruch in die oberste Etage der deutschen Belletristik gelang, spielte vom Start weg in der ersten Liga mit. 20 Wochen war die bewegende Geschichte vom reformpädagogischen Internat an der rauhen Nordsee unter den ersten 20 Titeln der Spiegel-Bestsellerliste zu finden. Wie erlebt die Autorin, die viele Jahre auf Juist lebte und in Ostfriesland ihre literarischen Anfänge machte, diesen großen Erfolg?
Ostfriesland Reloaded im Gespräch mit Sandra Lüpkes
Ostfriesland Reloaded: Frau Lüpkes, auf Ihrer Autorinnen-Website ist zu lesen, dass die Ideen für Ihre Bücher zu Ihnen kommen, man eine richtig gute Geschichte daran erkennt, „dass sie einen nicht mehr los lässt und sich beinahe von selbst zu erzählen scheint“. Wie kam „Die Schule am Meer“ zu Ihnen?
Sandra Lüpkes: Ich lebe zwar nicht mehr auf Juist, sondern mittlerweile in Berlin. Aber bei einer Lesung auf der Insel vor einigen Jahren sah ich im Küstenmuseum, das sich in einem der ehemaligen Internatsgebäude im Inselort Loog befindet, eine vergilbte Schautafel über die historische „Schule am Meer“, die mich neugierig machte. So begann ich mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Ich war mir anfangs gar nicht bewusst, und lange auch nicht sicher, dass und ob dieser Stoff einen Roman trägt. Ich habe mich dann im kalten Winter auf Juist vergraben, weiter geforscht und angefangen zu schreiben. Nach etwa achtzig Seiten stand für mich fest, dass diese Geschichte erzählt werden muss.
Sie wurde mit sechzehn Jahren nach Ostfriesland verheiratet, als zweite Gattin des Fürsten Georg Albrecht. Carolinensiel, der heute so lebendige historische Hafen an der Küste, trägt ihren Namen. Als junge Witwe zieht sie 1740 zu ihrer älteren Schwester, der Königin von Dänemark, nach Kopenhagen. Dort wird ihre große Sammlung von Gedichten erstmals veröffentlicht.
Caroline von Ostfriesland ist eine der wenigen Schriftstellerinnen der Geschichte, auch der ostfriesischen, für die es Belege und Zeugnisse ihres Wirkens gibt. Denn lesen und schreiben, das war über viele Jahrhunderte weitestgehend Männern vorbehalten. Nur in den höchsten Rängen der Gesellschaft beherrschten Frauen das Alphabet. Ihre Bildung beschränkte sich zumeist auf sehr Gottesfürchtiges, dem Studium der Bibel. So wundert es nicht, dass sich auch Caroline von Ostfriesland als Schriftstellerin eher den frommen Themen widmete: „Geistliche Gedichte“ ist der Titel und Inhalt ihres Buches, das 1756 am dänischen Hofe herausgegeben wird.
Wäre man vor zehntausend Jahren über Ostfriesland und die Nordsee geflogen, hätte man keine Küste und kein Wasser gesehen, sondern nur Land. Denn die Nordsee ist ein relativ junges geologisches Meer, wie ein Blick auf die Karten der geologischen Erdgeschichte zeigt. Damals war sie noch sehr klein in ihren Ausmaßen. Auch England und die Themse gehörten noch zum europäischen Festland. Gut zu erkennen sind zu diesem frühen Zeitpunkt schon der Rhein, die Weser und die Elbe, die heute noch natürliche Grenzen bilden. Die Ems mündete in dieser Zeit laut Forschungen der Universität Bremen noch ins Elbe-Urstromtal und nicht wie heute ins Meer.
Vor 10.000 Jahren an der Nordsee
Doggerbank und weite Landstriche des ehemaligen Küstenverlaufs, das frühzeitliche „Doggerland“, sind heute überflutet und bilden den Boden der Nordsee. Denn die gewaltigen Gletscher der Eiszeit schmolzen über die Jahrtausende dahin: Der Wasserstand stieg in viertausend Jahren um unglaubliche 40 Meter an. Das ist ein Anstieg von einem Meter in 100 Jahren.
Solche Werte erwartet man jetzt wieder für das 21. Jahrhundert, nachdem der Anstieg sich in den letzten Jahrhunderten auf etwa 30 Zentimeter pro Jahrhundert eingependelt hatte. Langfristig betrachtet nähern wir uns mit dem Anstieg des Meeresspiegels also wieder dem Durchschnittswert der geologischen Erdgeschichte.
Nur das dieses Mal die Erderwärmung hausgemacht ist, wir sträflich besseren Wissens die schützende Ozonschicht unserer Erde schädigen. Wenn auch die Ursache der deutlichen Erderwärmung heute eine andere ist als in den Jahrtausenden zuvor, können die Folgen für die Nordseeküste ähnlich gravierend sein.