Damals, auf Kinderkur an der Nordsee: Zeit der Entschuldigungen, auch in Ostfriesland

Ostfriesland Reloaded ist nach langer Winterpause wieder da! Und startet mit einem eher dunklen Kapitel in die Sommersaison 2023. Das aus aktuellem Anlass. Denn gerade schlägt eine unabhängige Studie, die die DAK-Gesundheit in Berlin vorgestellt hat, große Wellen. Es geht um die “Kinderverschickung”, mit der zig Millionen Kinder und Jugendliche von den 1950ern bis 1990er Jahren Bekanntschaft machten. Ein beliebtes Ziel waren dabei auch einige Ostfriesische Inseln, wie etwa Borkum, Langeoog oder Spiekeroog.

Guten Glaubens hatten ihre Eltern sie auf Anraten der Ärzte in eine betreute, meist mehrwöchige Kinderkur geschickt – nicht ahnend, dass ihre Kleinen einer “Subkultur von Gewalt” ausgesetzt wurden. Ja, es war sicherlich ein wenig der Zeitgeist, der bei der Kindererziehung damals etwas rauhere Maßstäbe anlegte als heute. Wo Ohrfeigen als pädagogisches Mittel in vielen Kreisen durchaus noch gesellschaftsfähig waren. Doch wo will man die Grenze ziehen? Wo ist es noch Strenge, wo ist es bereits Misshandlung? Am Besten können das wohl die Betroffenen beurteilen. Und davon gibt es nicht wenige, die lebenslange Traumata davongetragen haben.

Ihre Stimmen werden immer lauter, das Thema Kinderverschickung dringt vermehrt ins öffentliche Bewusstsein: Neben den Betroffenen-Initiativen, die öffentlichkeitswirksam seit 2019 die Stimme erheben, hat sich ein Themennetzwerk Kinderverschickung der freien Wohlfahrtsverbände gebildet – in dem sich auch die Caritas engagiert. Die Caritas, Diözese Hildesheim, hat sich auch als einer der ersten Verbände im Februar 2022 bei einer Gruppe von Betroffenen auf Langeoog für das Geschehene entschuldigt. Nun ist es der Vorstandschef der DAK-Gesundheit, der als erster Vertreter einer Krankenkasse im April 2023 öffentlich Betroffene um Entschuldigung bittet.

Davon wie von der schwierigen Spurensuche vor Ort und dem Wunsch, endlich gehört zu werden, berichtet diese Ausgabe. Wie immer wünscht Ostfriesland Reloaded

Viel Spaß beim Lesen!

“Verschickungskinder”: DAK beleuchtet eigene Geschichte

Anfangs, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging es darum, Kinder aus ausgebombten Städten an der gesunden Nordseeluft wieder aufzupäppeln. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daraus, und nicht nur auf den Ostfriesischen Inseln wie etwa Spiekeroog, Langeoog oder Borkum, eine überaus gängige Praxis staatlicher Gesundheitsfürsorge für Kinder, die sogenannte „Kinderkur-Verschickung“. Bis in die 1990er Jahre wurden bundesweit rund zehn Millionen Kinder im Alter zwischen zwei und vierzehn Jahren ohne Eltern auf eine nicht selten sehr weite Reise geschickt. Die Kuren waren öffentlich bezuschusst und wurden von Kinderärzten in Deutschland wegen Untergewicht, Atemwegsproblemen oder auch bei schlechten sozialen Verhältnissen verordnet.

Doch statt Fürsorge litten viele der Kinder in den meist sechswöchigen Kuren unter militärischer Disziplin, Essenszwang oder öffentlicher Bloßstellung, wenn sie etwa vor lauter Heimweh ins Bett machten oder nicht schlafen konnten. Nicht jedes der vielen Millionen Verschickungskinder musste das erfahren, doch es sind beileibe auch nicht nur Einzelfälle, die Traumatisches in dieser Zeit erlebt haben. Seit etwa vier Jahren gibt es in Deutschland die „Verschickungskinder-Initiative“, in der sich immer mehr Betroffene austauschen (www.verschickungsheime.de).

DAK-Gesundheit bittet Betroffene um Entschuldigung

Als erste Krankenkasse hat die DAK-Gesundheit nun die Geschichte der Kinderkuren in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Aus den Ergebnissen der unabhängigen Forschung ist eine Publikation entstanden, die Vorstandschef Andreas Storm gestern, am 26. April, in Berlin vorgestellt hat: „Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Bis zu 450.000 der “Verschickungskinder” waren bei der DAK damals versichert. Storm bat alle, die in diesen Kuren leidvolle Erfahrungen gemacht haben, im Namen der DAK-Gesundheit um Entschuldigung. Baden-Württembergs Sozial- und Gesundheitsminister Manne Lucha, Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), würdigte die Aufarbeitung als wichtiges Signal, dem weitere Beispiele folgen sollten – eine Einschätzung, die Prof. Dr. Christiane Dienel von der Betroffeneninitiative Verschickungskinder teilt.

„Hunderte ehemaliger Verschickungskinder sind bereits in Landes- und Heimortgruppen aktiv, forschen in den Akten und setzen sich mit den Missständen der Kinderkuren auseinander. Tausende haben auf der Webseite der Initiative und im Rahmen unserer großen Online-Befragung ausführlich Zeugnis abgelegt“, berichtet Prof. Dr. Christiane Dienel von der Betroffeneninitiative Verschickungskinder. „Wir erwarten von der Bundesregierung, den Ländern und den Trägern die Anerkennung des Leids und die Aufarbeitung der Geschehnisse. Das Buch von Hans-Walter Schmuhl ist hier ein vielversprechender Anfang.”

Studie bestätigt Entstehung einer “Subkultur der Gewalt”

„Das Ineinandergreifen von strukturellen Faktoren, den pädagogischen Vorstellungen der Erzieherinnen und dem Kinderkurkonzept schuf den Nährboden für die Entstehung einer Subkultur der Gewalt,“ so Studienautor Schmuhl. Die Erfahrungen der „Verschickungskinder“ seien mit denen vergleichbar, die aus anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie und Behindertenhilfe aus dieser Zeit bekannt seien. „Es handelte sich eindeutig nicht um Einzelfälle“, betont Schmuhl.

In der 300-seitigen Studie wird das Leid der Verschickungskinder ausführlich beschrieben. Grundlage sind zahlreiche Tiefeninterviews. Aus diesen fasst Schmuhl unter anderem zusammen: „Aus den Interviews ergibt sich ein breites Spektrum von Gewaltformen. Nachweisbar sind die rigorose Abschottung der Kurkinder von der Außenwelt, eine ständige Kontrolle, die Unterwerfung unter rigide Tagesstrukturen, die Wegnahme persönlicher Gegenstände, das Vorenthalten von Rückzugsräumen, eine oft unpersönliche Behandlung, ein strenger, mitunter militärisch anmutender Kommandoton, verbale Herabsetzungen, Drohungen, demütigende Strafen, die Bloßstellung des nackten Körpers sowie massive Formen körperlicher Gewalt, von Ohrfeigen über das Einsperren in einem Besenschrank oder das gewaltsame Eintrichtern von Erbrochenem bis hin zu massiven sexuellen Übergriffen. All dies verursachte tiefe Verletzungen des Selbst, die mit sehr starken Emotionen, insbesondere mit überwältigenden Schamgefühlen verbunden waren und die auch nach der Kur lange, in manchen Fällen bis heute nachwirken.

Schmuhl stützte seine Forschung neben dem Studium von Aktenbeständen der DAK auf Gespräche mit Betroffenen und Erkenntnisse, die vom nexus Institut in Zusammenarbeit mit der Initiative Verschickungskinder und deren Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickungen e. V. aufgearbeitet wurden.


Betroffene können sich per E-Mail an die DAK-Gesundheit wenden (verschickungskinder@dak.de). Weitere Informationen bietet die Website der Betroffeneninitiative: http://www.verschickungsheime.de.

Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Döllingun d Galitz Verlag, 304 Seiten, ISBN 978-3-86218-163-6, 28 Euro

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Trauma Kinderkur: Langeoog unterstützte bei Spurensuche

Auf der Insel Langeoog wurden bereits sehr früh, ab 1946, vom Hilfswerk der freien Wohlfahrtsverbände Hannover e. V. Heime für Kinderkuren betrieben. Anfangs, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging es darum, Kinder aus ausgebombten Städten an der gesunden Nordseeluft wieder aufzupäppeln. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daraus, und nicht nur auf Langeoog, eine überaus gängige Praxis staatlicher Gesundheitsfürsorge für junge Menschen – die sogenannte „Kinderkur-Verschickung“. Bis in die 1980er Jahre wurden bundesweit mehr als acht Millionen Kinder im Alter zwischen zwei und vierzehn Jahren ohne Eltern auf eine nicht selten sehr weite Reise geschickt. Die Kuren waren öffentlich bezuschusst und wurden von den Kinderärzten in Deutschland wegen Untergewicht, Atemwegsproblemen oder auch bei schlechten sozialen Verhältnissen verordnet.

Doch statt Fürsorge litten viele der Kinder in den meist sechswöchigen Kuren unter militärischer Disziplin, Essenszwang oder öffentlicher Bloßstellung, wenn sie etwa vor lauter Heimweh ins Bett machten oder nicht schlafen konnten. Nicht jedes der vielen Millionen Verschickungskinder musste das erfahren, doch es sind beileibe auch nicht nur Einzelfälle, die Traumatisches in dieser Zeit erlebt haben. Seit etwa vieri Jahren gibt es in Deutschland die „Verschickungskinder-Initiative“, in der sich immer mehr Betroffene austauschen (www.verschickungsheime.de).

„Licht ins Dunkel der eigenen Erinnerung“ zu bringen, darum ging es auch einigen Betroffenen der für Langeoog insgesamt 40 Köpfe zählenden Initiative. 13 von ihnen kehrten letztes Jahr, Mitte Februar 2022 in Begleitung und am stürmischsten Wochenende des Winters, wieder zurück auf eine Insel, an die sie keine guten Kindheitserinnerungen haben. Es war für jeden und jede Einzelne eine ganz persönliche Zeitreise.


„Erklärung der Langeooger Verschickungskinder“

„Wir wollen Aufklärung, vornehmlich für uns selbst, aber wir wollen auch der Öffentlichkeit deutlich machen, was im Namen der Gesundheitsförderung für Kinder passieren konnte. Wir wissen, dass „Fürsorge für Kinder“ in Deutschland, auch nach 1945, oft lange weiter in einer unseligen Tradition praktiziert worden ist. Wir Verschickungskinder haben das, was uns jeweils widerfahren ist, lange für ein zufälliges Einzelschicksal gehalten. Durch die Initiative ist mittlerweile deutlich geworden, dass es weit verbreitete Strukturen waren und Millionen von Kindern verschickt wurden. Sicher ist einiges im Umgang mit Kindern der damaligen Zeit geschuldet, doch der Blick auf die Bedürfnisse und Nöte von Kindern ist in Deutschland mittlerweile ein anderer geworden.“

Organisiert hatte den mehrtägigen Trip die Hamburger Journalistin Marina Friedt, die als ehemaliges Langeooger Verschickungskind auch persönlich betroffen ist. Zusammen mit Manfred Gräber, dem Langeoog-Koordinator der bundesweiten Initiative, hatte sie bereits vorab viele Fakten zu den Kinderkuren auf Langeoog gesammelt. Mit einem Transport von 971 Kindern fing es im Mai 1946 an, in der Hochzeit trafen alle vier bis fünf Wochen etwa 1.200 Kinder auf Langeoog ein. Langeoog war damals wahrlich eine „Kinder-Insel“. Von der AWO, dem Roten Kreuz, der Diakonie und der Caritas wurden von 1946 bis 1975 vier Kinderheime betrieben. Hinzu kamen noch eine Reihe privater Häuser und Hotels, die Kurkinder aufnahmen.  

Insbesondere die Caritas engagiert sich heute sehr in der Aufarbeitung dieser Zeit. Anlässlich des Besuches der Initiative auf Langeoog, bat Achim Eng, Caritas-Direktor der zuständigen Diözese Hildesheim, am 19. Februar in einer Presseerklärung die ehemaligen Verschickungskinder um Verzeihung:

„Ich möchte mich im Namen der Caritas für das entschuldigen, was Ihnen in solchen Kuren als Kinder widerfahren ist. Statt Fürsorge und Verständnis, rüde Behandlung und Herzlosigkeit bis hin zu schwarzer Pädagogik. Sie gehören zu denjenigen, die die traumatischen Erlebnisse aus ihrem Leben nicht auslöschen können. Ich kann Ihnen die Last der Erinnerung leider nicht abnehmen, sondern kann nur mein Bedauern zum Ausdruck bringen und um Verzeihung für das Geschehene bitten.“

Vor Ort kümmerte sich die Leiterin der Langeooger Caritas-Einrichtung, Andrea Eberhardt-Soumagne, mit großer Hilfsbereitschaft und Einfühlungsvermögen um die Gruppe. Es war ein spezieller Rundgang ausgearbeitet, der zusätzlich mit der Psychologin Yvonne Pingel begleitet wurde. Zur Caritas-Klinik gehören heute das Haus Sonnenschein, das Dünenheim (von der DRK übernommen), das Flinthörnhaus (von der Diakonie übernommen) und bis 1999 das Haus Möwennest.

Auch das heutige „Haus Kloster Loccum“ gehörte zu den Orten, denen man gemeinsam einen Besuch abstattete. Hier führte der Leiter Thomas Behncke durch das gewaltige Gebäude, das heute von der „Inneren Mission“ als gemeinnütziges Hotel für den erschwinglichen Urlaub mit Kindern geführt wird.  Die Spurensuche führte auch zum ehemaligen Haus Bodelschwingh in der Mittelstraße oder dem Haus Friesenheim, dem heutigen Haus Ostwind der AWO.

Insgesamt gestaltete sich das Entdecken und Zuordnen der ehemaligen Kinderkurhäuser und -heime auf Langeoog im Einzelfall schwierig. Dazu gab es über die Jahre zu viele Wechsel von Trägern und Betreibern, wurde hier abgerissen, dort neu gebaut. Umso wichtiger war der Gruppe der Besuch des Langeooger Heimatmuseums, dem „Seemanshus“. Und tatsächlich: Erhard Nötzel, Vorsitzender des Heimatvereins, konnte helfen. Dank historischer Bilder, die auf der neuen digitalen Medienstation im Museum direkt zugreifbar waren, fanden zwei Verschickungskinder das Kinderheim ihrer leidvollen Erinnerung auf alten Plänen wieder. Zu sehen ganz oben als Titelbild dieses Beitrags (Foto: Heimatmuseum Langeoog).

Der Heimatverein sagte weitere Hilfe zu und steht im Kontakt mit der Verschickungskinder-Initiative. Er hat dabei auch die deutliche Unterstützung von Heike Horn, die die Betroffenen Langeoogs zu einem ausführlichen Gespräch im Rathaus begrüßte: „Es ist gut und richtig, zur Sprache zu bringen und sichtbar zu machen, welches Leid Kinderseelen zugefügt wurde, welcher Machtmissbrauch teilweise über viele Jahre auch auf unserer Insel stattgefunden hat. Davor kann man die Augen nicht verschließen.“

Immer interessiert ist natürlich auch die Langeoog-Gruppe der Verschickungskinder-Initiative an Informationen aus der Zeit der Kinderkuren. Wer bei der Aufarbeitung mitmachen will und dabei vielleicht hilft, so manche gequälte Seele zu erleichtern, der kann sich gerne an die Langerooger Heimortgruppe der Initiative, langeoog@verschickungsheime.de, oder direkt an Marina Friedt wenden (Tel. 0170 / 9020 224). Kommunikation ist wichtig – und kann hier ungemein befreiend wirken.


Hinweis: Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1/2022 des Langeooger Magazins “De Utkieker” erstmals erschienen (hier in leicht gekürzter Fassung).

Ein wahrhaft dunkles Kapitel der Pädagogik: Anklage in Briefen

“Als ich am 30.9. meine Tochter auf dem Mindener Bahnhof abholte, war ich erschrocken über die körperliche Verfassung des Kindes. Meine Tochter erzählte mir schon auf der Fahrt von Minden nach Eidinghausen, was so alles im Haus „Bodelschwingh“ geschehen war.” So beginnt ein Brief, der sie auch heute noch aufwühlt. Geschrieben hat ihn ihr Vater am 10. Oktober 1969 an den Oberkreisdirektor und die zuständige Abteilung für Gesundheitswesen der Stadt Minden, die die kleine Katrin Pieper zur “Kindererholung” im Sommer nach Langeoog geschickt hatte. Hier der Originalbrief im Wortlaut:

Was ich Ihnen jetzt mitteile ist die Aussage zweier Kinder: Man hatte sie wiederholt an den Haaren und Ohren gezogen und teilweise auch Ohrfeigen gegeben. Es soll vorgekommen sein, dass beim Essen die Kinder, die zu langsam oder zu schnell aßen, in einem Zimmer eingesperrt wurden und dort weiter essen mussten. Meine Tochter erzählte mir, dass sie des Nachts nicht nach Bedürfnis auf Toilette gehen konnten, weil dieses von den Angestellten verboten war. Nachdem sie zweimal die Hose schmutzig gemacht hatte, musste sie diese selbst auswaschen, obwohl sie nicht einmal fünf Jahre alt ist.

Zweimal, erzählte sie mir, sei sie in einem Zimmer eingesperrt worden (der Grund ist ihr nicht klar, offenbar wegen der Beschmutzung der Hose), wo die Tür verschlossen war und sie ebenfalls nicht zur Toilette konnte.

Wenn ich bedenke, dass ich dem Heim zweimal schriftlich ihre Eigenschaften mitgeteilt hatte (siehe Anlage), sie nicht einmal fünf Jahre alt, sehr hautkrank und dadurch besonders sensibel ist, ist das eine traurige Darstellung der Kinder.

Meine Tochter hatte 4 Pfund an Gewicht verloren und ist äußerst verängstigt und krank zurückgekommen (Ohrenentzündung, Magen- und Darmverstimmung etc.)

Ich muß annehmen, wenn die Kinder von der Fürsorge zur Erholung in ein Heim geschickt werden, daß sie in guten Händen sind und vor allen Dingen in Händen, die Verständnis für Kinder haben.

Ich möchte betonen, daß dies die Aussagen zweier Kinder sind, die genau übereinstimmen.

Ich bitte Sie, andere Kinder zu befragen, die zur gleichen Zeit im Heim gewesen sind, damit hier eventuell noch einiges getan werden kann.

Mit freundlichem Gruß

Das Haus Bodelschwingh antwortete im November 1969 mit einem langen Brief in dem es sämtliche Vorwürfe zurückwies. Sie bestätigen der kleinen Katrin eine auffällige Ängstlichkeit und Schüchternheit, haben sich diese aber mit der Hautkrankheit des Mädchens erklärt: “Da Katrin ein Ekzemkind ist – und Ekzemkinder meistens sensibler Natur sind.” Das Ekzem, das wurde wohl auch in den sechs Wochen des Aufenthalts geheilt, durch “viele Seebäder”, die auch der Grund für den Gewichtsverlust seien. Weiter heißt es im Originaltext des Antwortschreibens:

Katrin hat hier wiederholt – außer nachts – auch in der Mittagszeit eingenäßt und eingekotet und dabei auch mit ihrem Kot gespielt, daß Bett beschmutzt und die Wände bemalt und Kot ins Zimmer geworfen. Auch diese Begebenheiten haben wir einer psychischen Fehlhaltung zugeschrieben. Allerdings ist es in der Tat einmal geschehen, daß Schwester Mechthild – da sie gerade alles wieder sauber hatte – das Kind für sie aus vermeindlichen pädagogischen Gründen mit der beschmutzten Hose in den Waschraum geschickt hat und sie die Hose ausspülen ließ. Das wurde von mir jedoch sofort untersagt.

Als Verteidigung gedacht, werden diese Zeilen zur ungewollten Anklage. Warum das ihnen anvertraute Mädchen diese Auffälligkeiten im Verhalten zeigt, wurde niemals hinterfragt. Ob das Kind vielleicht unter schrecklichem Heimweh litt und mit dem Kot verzweifelt seine Heimreise provozieren wollte? Oder dass die Vierjährige, schlichtweg noch viel zu klein war für eine solche Reise und so lange Zeit fern von den Eltern? Von altersgerechter Kinderpsychologie ist in diesen Zeilen nichts zu spüren. Sie sind vielmehr ein besonders gutes Beispiel für ein dunkles Kapitel der Pädagogik, das nun verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt.

Nicht zuletzt durch Menschen wie Katrin Pieper, die verheiratet heute einen anderen Namen trägt, und sich aktiv auf die Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit begeben hat, um zu verstehen, ihre persönlichen Erfahrungen aufzuarbeiten und mit dem Trauma nach vielen Jahrzehnten auch endlich abschließen zu können. Der Brief ihres Vaters an die Verantwortlichen ihrer Kinderverschickung und die Antwort darauf sind ein seltenes Zeitdokument von Geschehen, die oft nur noch diffus in der Erinnerung der zu Erwachsenen Gereiften ihr Unwesen treiben und manche von ihnen bis heute nicht schlafen lassen.

Ostfriesland Reloaded dankt Katrin Pieper sehr für das Vertrauen und die Bereitschaft, diese sehr persönlichen Briefe zu veröffentlichen und aus ihnen zitieren zu dürfen.


Bildhinweise: Der Brief des Vaters von Katrin Pieper (links) und das Antwortschreiben vom “Haus Bodelschwingh” auf Langeoog (rechts) – beide von 1969 – im Original.

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Revival für Willrath Dreesen, Direktor und Dichter zugleich

Der junge Mann aus Norden konnte nicht nur gut schreiben und dichten, sondern hatte auch ausgesprochene Managerqualitäten. Die setzte er auch immer wieder für die Literatur ein: in jungen Jahren als Verlagsdirektor bei Reclam in Leipzig, später dann als Leiter für Schrifttum bei der Ostfriesischen Landschaft und kurz vor seinem Tod als Organisator der ersten ostfriesischen Dichtertagung 1950 auf Langeoog. Dort lenkte er von 1924 bis 1928 als Bürgermeister und später als Kurdirektor erfolgreich auch die Geschicke der Insel.

Doch im Grunde seines Herzens war er immer ein Schriftsteller. Lyrik, Prosa und Dramen prägten ihn in jungen Jahren und dann wieder ganz spät im Alter, als er nach einem bewegten Leben, das von zwei Weltkriegen gezeichnet war, mit 70 Jahren als Pensionär nach Langeoog zurückkehrte und für kurze Zeit nochmals Kurdirektor der Insel wurde.

Man könnte viel über den Politiker Dreesen schreiben, der in den Zwanziger Jahren an der Spitze der Verwaltung wegweisende Entscheidungen für die Insel traf: Die Gemeinde übernahm damals selbst das Tourismusgeschäft und wurde ebenfalls zum Betreiber der Schifffahrt. Aber im Mittelpunkt dieses Beitrags soll der die Literatur liebende und schreibende Willrath Dreesen stehen.

Die Wiederentdeckung in den Medien

Denn nach vielen Jahren der Stille um Ostfrieslands vergessenen Dichter, erlebte er in 2022 ein regelrechtes Revival. In kurzer Abfolge erschienen gleich drei längere Artikel über ihn: In der Beilage zur Ostfriesen Zeitung stellte Paul Weßels im April in seiner Rubrik “Buch des Monats” Willrath Dreesen und ausgewählte Werke aus seiner Feder vor. Ein weiterer, sehr lesenswerter Beitrag über Willrath Dreesens unterschiedliche Lebensstationen inklusive der Abbildung vieler Buchtitel wurde von ihm, dem Bibliotheksleiter der Ostfriesischen Landschaft, im Juni des Jahres im “Blog für ost-friesische Geschichte” veröffentlicht. Es ist die bisher umfangreichste Würdigung Dreesens.

Im Langeooger Inselmagazin “de Utkieker” war kurz vorher, im Mai, bereits eine ausführliche Darstellung vom Wirken dieses facettenreichen Mannes zu lesen, mit seltenen Bildern aus dem Privatarchiv der Familie. Darunter auch eine Aufnahme vom Bau seines kleinen Hauses in den Dünen 1926, in das sich der resolute Kurdirektor so gerne zum Schreiben zurückzog. Nun stellt auch Ostfriesland Reloaded zum Ende des Jahres diese bemerkenswerte Figur der ostfriesischen Literatur nochmals vor. 2022: Das war definitiv das Jahr der Wiederentdeckung Willrath Dreesens.

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“Am Strand erklingt ein eigen kalter Ton”, wenn es Herbst wird an der rauhen Nordsee. Es sind zeitlose Eingangszeilen, die mit wenigen Worten die Stimmung der letzten Tage eines Jahres einfangen – oder eines Lebens. Denn dieses Gedicht von Willrath Dreesen ist durchaus auch persönlich zu verstehen: melancholische Gedanken eines alternden Dichters.

NUN MAG ES HERBSTEN

Am Strand erklingt ein eigen kalter Ton,
Um unsre Knie zieht der Nebel schon. –
So wirds der letzte schöne Tag wohl sein,
Daß hüllenlos wir stehn im Abendschein.

Von deinen Schultern glänzt ein sanftes Rot,
Das schöner noch aus deinen Augen loht –
Nachglanz des Sommers, der hinuntersank,
Und schmerzvoll – süß ein stummes „Habe Dank!“

Der Wind wird kalt und bläst die Wellen kraus.
Du schmiegst dich an mich, deutest still nach Haus.
Nun mag es herbsten, bald auch mag es schnein –
Wir gehn in einen langen Sommer ein.

Von Willrath Dreesen,
aus „Der Eisvogel und andere Gedichte“ (posthum 1953).

Zeltlager anno 1936: Der Jugendkult der Nazis

Wenn man von Weitem auf die Szenerie blickt, unterscheidet sie sich abgesehen vom Schwarz-Weiß der Aufnahmen, gar nicht mal so sehr von einem Zeltlager heutiger Tage. In einem weiten Dünental verteilen sich viele weiße Rundzelte im Kreis. In der Mitte befindet sich ein großer Freiplatz mit einer gehissten Fahne: ein typisches Zeltlager. Es unterscheidet sich äußerlich nicht wesentlich von dem, das etwa der Sportbund Niedersachsen aktuell jedes Jahr im Sommer am Fuß der Melkhorndüne für Jugendliche auf Langeoog organisiert. Nur das dieses ein ganz spezielles ist: Es ist das Zeltlager der Hitlerjugend, das die Nationalsozialisten 1936 im Pirolatal der Insel, direkt am Meer, aufgeschlagen hatten. Hier sollte der Nachwuchs geformt werden, ganz im Sinne der Partei-Ideologie.

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Ein Literatur-Nobelpreisträger aus Ostfriesland: Rudolf Eucken, der Richard David Precht von 1908

Heute, am 10. Dezember, wird in Stockholm der Literatur-Nobelpreis verliehen. Zum 118. Mal. 2021 geht die renommierte Auszeichnung an Abdulrazak Gurnah, einen 72jährigen Schriftsteller aus Tansania “für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten.“

Der Literaturnobelpreis ist immer ein Ausdruck seiner Zeit. Das war auch 1908 nicht anders, als mit Rudolf Eucken ein Philosoph zum König der Literatur ausgerufen wurde, der es verstand, die Nöte der Menschen beim Aufbruch in die Moderne zu thematisieren – ausgelöst durch die vielen neuen Maschinen und Technologien, das Tempo und den schnellen Takt der Industrialisierung. Er erklärte, und er bot einen Ausweg mit seiner Philosophie des Lebens, die der überforderten Seele fern von allem Materiellen Heilung versprach. Er war der Richard David Precht der frühen Moderne – und er war gebürtiger Ostfriese. Gute Gründe also, ihn in der neuesten Ausgabe von Ostfriesland Reloaded genauer vorzustellen:

Aurich: Heimatstadt eines Literatur-Nobelpreisträgers

Lebensphilosoph Rudolf Eucken: Der ganze Mensch im Blick

Literatur-Nobelpreis: 8 Deutsche unter 118 Preisträger:innen

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Aurich: Heimatstadt eines Literatur-Nobelpreisträgers

Auch wenn er die längste Zeit seines Lebens, 52 Jahre lang, in Jena wohnte und wirkte, die norddeutsche Landschaft seiner Kindheit hat er nie vergessen. Als er im Alter von 75 Jahren 1921 seine „Lebenserinnerungen“ veröffentlicht, widmet der Philosoph und Nobelpreisträger Rudolf Christoph Eucken viele Seiten seinen ersten Jahren in Ostfriesland. Er schildert ausführlich Land und Leute: „Bemerkenswert ist dabei, dass die Friesen die Freiheit über alles liebten, dass sie aber keineswegs Anhänger einer völligen Gleichheit waren.“ Auch die Residenz- und Beamtenstadt Aurich, in der er am 5. Januar 1846 in der Osterstraße 27 geboren wird, beschreibt er mit viel Liebe, als einen ruhigen und friedlichen Ort, eine Idylle umgeben von „anspruchsloser, aber anmutiger Natur“. Die pure Behaglichkeit strömt aus seinen Worten.

Die wird für ihn als Kind jäh zerstört als sein Vater Anfang 1851 plötzlich während eines gemeinsamen Aufenthalts der Familie auf Norderney stirbt. Er kann sich noch als alter Mann gut daran erinnern, wie die Leiche seines Vaters von der Insel im Wagen durch das Watt nach Aurich transportiert wird. Da war er noch nicht sechs Jahre alt. Er hatte kurz vorher auch seinen Bruder verloren, so dass er von nun allein mit seiner verwitweten Mutter lebte, die mit dem Jungen in das Haus der Großmutter auf dem Zingel außerhalb der Stadtmauer zog, ganz in die Nähe der stattlichen Windmühle.

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