“Verschickungskinder”: DAK beleuchtet eigene Geschichte

Anfangs, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging es darum, Kinder aus ausgebombten Städten an der gesunden Nordseeluft wieder aufzupäppeln. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daraus, und nicht nur auf den Ostfriesischen Inseln wie etwa Spiekeroog, Langeoog oder Borkum, eine überaus gängige Praxis staatlicher Gesundheitsfürsorge für Kinder, die sogenannte „Kinderkur-Verschickung“. Bis in die 1990er Jahre wurden bundesweit rund zehn Millionen Kinder im Alter zwischen zwei und vierzehn Jahren ohne Eltern auf eine nicht selten sehr weite Reise geschickt. Die Kuren waren öffentlich bezuschusst und wurden von Kinderärzten in Deutschland wegen Untergewicht, Atemwegsproblemen oder auch bei schlechten sozialen Verhältnissen verordnet.

Doch statt Fürsorge litten viele der Kinder in den meist sechswöchigen Kuren unter militärischer Disziplin, Essenszwang oder öffentlicher Bloßstellung, wenn sie etwa vor lauter Heimweh ins Bett machten oder nicht schlafen konnten. Nicht jedes der vielen Millionen Verschickungskinder musste das erfahren, doch es sind beileibe auch nicht nur Einzelfälle, die Traumatisches in dieser Zeit erlebt haben. Seit etwa vier Jahren gibt es in Deutschland die „Verschickungskinder-Initiative“, in der sich immer mehr Betroffene austauschen (www.verschickungsheime.de).

DAK-Gesundheit bittet Betroffene um Entschuldigung

Als erste Krankenkasse hat die DAK-Gesundheit nun die Geschichte der Kinderkuren in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Aus den Ergebnissen der unabhängigen Forschung ist eine Publikation entstanden, die Vorstandschef Andreas Storm gestern, am 26. April, in Berlin vorgestellt hat: „Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Bis zu 450.000 der “Verschickungskinder” waren bei der DAK damals versichert. Storm bat alle, die in diesen Kuren leidvolle Erfahrungen gemacht haben, im Namen der DAK-Gesundheit um Entschuldigung. Baden-Württembergs Sozial- und Gesundheitsminister Manne Lucha, Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), würdigte die Aufarbeitung als wichtiges Signal, dem weitere Beispiele folgen sollten – eine Einschätzung, die Prof. Dr. Christiane Dienel von der Betroffeneninitiative Verschickungskinder teilt.

„Hunderte ehemaliger Verschickungskinder sind bereits in Landes- und Heimortgruppen aktiv, forschen in den Akten und setzen sich mit den Missständen der Kinderkuren auseinander. Tausende haben auf der Webseite der Initiative und im Rahmen unserer großen Online-Befragung ausführlich Zeugnis abgelegt“, berichtet Prof. Dr. Christiane Dienel von der Betroffeneninitiative Verschickungskinder. „Wir erwarten von der Bundesregierung, den Ländern und den Trägern die Anerkennung des Leids und die Aufarbeitung der Geschehnisse. Das Buch von Hans-Walter Schmuhl ist hier ein vielversprechender Anfang.”

Studie bestätigt Entstehung einer “Subkultur der Gewalt”

„Das Ineinandergreifen von strukturellen Faktoren, den pädagogischen Vorstellungen der Erzieherinnen und dem Kinderkurkonzept schuf den Nährboden für die Entstehung einer Subkultur der Gewalt,“ so Studienautor Schmuhl. Die Erfahrungen der „Verschickungskinder“ seien mit denen vergleichbar, die aus anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie und Behindertenhilfe aus dieser Zeit bekannt seien. „Es handelte sich eindeutig nicht um Einzelfälle“, betont Schmuhl.

In der 300-seitigen Studie wird das Leid der Verschickungskinder ausführlich beschrieben. Grundlage sind zahlreiche Tiefeninterviews. Aus diesen fasst Schmuhl unter anderem zusammen: „Aus den Interviews ergibt sich ein breites Spektrum von Gewaltformen. Nachweisbar sind die rigorose Abschottung der Kurkinder von der Außenwelt, eine ständige Kontrolle, die Unterwerfung unter rigide Tagesstrukturen, die Wegnahme persönlicher Gegenstände, das Vorenthalten von Rückzugsräumen, eine oft unpersönliche Behandlung, ein strenger, mitunter militärisch anmutender Kommandoton, verbale Herabsetzungen, Drohungen, demütigende Strafen, die Bloßstellung des nackten Körpers sowie massive Formen körperlicher Gewalt, von Ohrfeigen über das Einsperren in einem Besenschrank oder das gewaltsame Eintrichtern von Erbrochenem bis hin zu massiven sexuellen Übergriffen. All dies verursachte tiefe Verletzungen des Selbst, die mit sehr starken Emotionen, insbesondere mit überwältigenden Schamgefühlen verbunden waren und die auch nach der Kur lange, in manchen Fällen bis heute nachwirken.

Schmuhl stützte seine Forschung neben dem Studium von Aktenbeständen der DAK auf Gespräche mit Betroffenen und Erkenntnisse, die vom nexus Institut in Zusammenarbeit mit der Initiative Verschickungskinder und deren Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickungen e. V. aufgearbeitet wurden.


Betroffene können sich per E-Mail an die DAK-Gesundheit wenden (verschickungskinder@dak.de). Weitere Informationen bietet die Website der Betroffeneninitiative: http://www.verschickungsheime.de.

Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Döllingun d Galitz Verlag, 304 Seiten, ISBN 978-3-86218-163-6, 28 Euro

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