“Als ich am 30.9. meine Tochter auf dem Mindener Bahnhof abholte, war ich erschrocken über die körperliche Verfassung des Kindes. Meine Tochter erzählte mir schon auf der Fahrt von Minden nach Eidinghausen, was so alles im Haus „Bodelschwingh“ geschehen war.” So beginnt ein Brief, der sie auch heute noch aufwühlt. Geschrieben hat ihn ihr Vater am 10. Oktober 1969 an den Oberkreisdirektor und die zuständige Abteilung für Gesundheitswesen der Stadt Minden, die die kleine Katrin Pieper zur “Kindererholung” im Sommer nach Langeoog geschickt hatte. Hier der Originalbrief im Wortlaut:
Was ich Ihnen jetzt mitteile ist die Aussage zweier Kinder: Man hatte sie wiederholt an den Haaren und Ohren gezogen und teilweise auch Ohrfeigen gegeben. Es soll vorgekommen sein, dass beim Essen die Kinder, die zu langsam oder zu schnell aßen, in einem Zimmer eingesperrt wurden und dort weiter essen mussten. Meine Tochter erzählte mir, dass sie des Nachts nicht nach Bedürfnis auf Toilette gehen konnten, weil dieses von den Angestellten verboten war. Nachdem sie zweimal die Hose schmutzig gemacht hatte, musste sie diese selbst auswaschen, obwohl sie nicht einmal fünf Jahre alt ist.
Zweimal, erzählte sie mir, sei sie in einem Zimmer eingesperrt worden (der Grund ist ihr nicht klar, offenbar wegen der Beschmutzung der Hose), wo die Tür verschlossen war und sie ebenfalls nicht zur Toilette konnte.
Wenn ich bedenke, dass ich dem Heim zweimal schriftlich ihre Eigenschaften mitgeteilt hatte (siehe Anlage), sie nicht einmal fünf Jahre alt, sehr hautkrank und dadurch besonders sensibel ist, ist das eine traurige Darstellung der Kinder.
Meine Tochter hatte 4 Pfund an Gewicht verloren und ist äußerst verängstigt und krank zurückgekommen (Ohrenentzündung, Magen- und Darmverstimmung etc.)
Ich muß annehmen, wenn die Kinder von der Fürsorge zur Erholung in ein Heim geschickt werden, daß sie in guten Händen sind und vor allen Dingen in Händen, die Verständnis für Kinder haben.
Ich möchte betonen, daß dies die Aussagen zweier Kinder sind, die genau übereinstimmen.
Ich bitte Sie, andere Kinder zu befragen, die zur gleichen Zeit im Heim gewesen sind, damit hier eventuell noch einiges getan werden kann.
Mit freundlichem Gruß


Das Haus Bodelschwingh antwortete im November 1969 mit einem langen Brief in dem es sämtliche Vorwürfe zurückwies. Sie bestätigen der kleinen Katrin eine auffällige Ängstlichkeit und Schüchternheit, haben sich diese aber mit der Hautkrankheit des Mädchens erklärt: “Da Katrin ein Ekzemkind ist – und Ekzemkinder meistens sensibler Natur sind.” Das Ekzem, das wurde wohl auch in den sechs Wochen des Aufenthalts geheilt, durch “viele Seebäder”, die auch der Grund für den Gewichtsverlust seien. Weiter heißt es im Originaltext des Antwortschreibens:
Katrin hat hier wiederholt – außer nachts – auch in der Mittagszeit eingenäßt und eingekotet und dabei auch mit ihrem Kot gespielt, daß Bett beschmutzt und die Wände bemalt und Kot ins Zimmer geworfen. Auch diese Begebenheiten haben wir einer psychischen Fehlhaltung zugeschrieben. Allerdings ist es in der Tat einmal geschehen, daß Schwester Mechthild – da sie gerade alles wieder sauber hatte – das Kind für sie aus vermeindlichen pädagogischen Gründen mit der beschmutzten Hose in den Waschraum geschickt hat und sie die Hose ausspülen ließ. Das wurde von mir jedoch sofort untersagt.
Als Verteidigung gedacht, werden diese Zeilen zur ungewollten Anklage. Warum das ihnen anvertraute Mädchen diese Auffälligkeiten im Verhalten zeigt, wurde niemals hinterfragt. Ob das Kind vielleicht unter schrecklichem Heimweh litt und mit dem Kot verzweifelt seine Heimreise provozieren wollte? Oder dass die Vierjährige, schlichtweg noch viel zu klein war für eine solche Reise und so lange Zeit fern von den Eltern? Von altersgerechter Kinderpsychologie ist in diesen Zeilen nichts zu spüren. Sie sind vielmehr ein besonders gutes Beispiel für ein dunkles Kapitel der Pädagogik, das nun verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt.
Nicht zuletzt durch Menschen wie Katrin Pieper, die verheiratet heute einen anderen Namen trägt, und sich aktiv auf die Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit begeben hat, um zu verstehen, ihre persönlichen Erfahrungen aufzuarbeiten und mit dem Trauma nach vielen Jahrzehnten auch endlich abschließen zu können. Der Brief ihres Vaters an die Verantwortlichen ihrer Kinderverschickung und die Antwort darauf sind ein seltenes Zeitdokument von Geschehen, die oft nur noch diffus in der Erinnerung der zu Erwachsenen Gereiften ihr Unwesen treiben und manche von ihnen bis heute nicht schlafen lassen.
Ostfriesland Reloaded dankt Katrin Pieper sehr für das Vertrauen und die Bereitschaft, diese sehr persönlichen Briefe zu veröffentlichen und aus ihnen zitieren zu dürfen.




Bildhinweise: Der Brief des Vaters von Katrin Pieper (links) und das Antwortschreiben vom “Haus Bodelschwingh” auf Langeoog (rechts) – beide von 1969 – im Original.
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Zum Thema „Verrschickungskinder“, das mir durch die Erlebnisse meiner Frau auf Borkum gegenwärtig war, schrieb ich einen entsprechenden Kurzkrimi, der im nächsten Jahr (´24) beim Gmeiner-Verlag in der Anthologie „Fiese Friesen3“ von Peter Gerdes herausgegeben werden soll. Die Zustände, die ich bei der Recherche lesen musste, fand ich äußerst erschreckend