Hier und da sieht man in Ostfriesland noch ein Straßenschild mit seinem Namen. Doch die Wenigsten wissen heute, mit wem sie es da eigentlich zu tun haben. Dabei war Rudolf Eucken zu seiner Zeit ein berühmter Mann – und das nicht nur in Aurich, seinem Geburtsort, sondern in der ganzen Welt. Vor allem in Skandinavien und angelsächsischem Raum war er bekannt und geschätzt. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts war Eucken ein außerordentlich populärer Philosoph, der nicht im vergeistigten wissenschaftlichen Elfenbeinturm wirkte, sondern ein echter Lebensphilosoph war. In diesem Sinne war er durchaus vergleichbar mit einem Richard David Precht der heutigen Tage.
Er war ein Philosoph für den Alltag, ein philosophischer Publizist. Jedenfalls wirkte er weit über die Öffentlichkeit der reinen philosophischen Wissenschaft hinaus. Mehr als 1.000 Schriften und Aufsätze hat er verfasst. Sein publizistischer Höhepunkt war die Verleihung des Literaturnobelpreises, den er 1908 „auf Grund des ernsten Suchens nach Wahrheit, der durchdringenden Gedankenkraft und des Weitblicks, der Wärme und Kraft der Darstellung, womit er in zahlreichen Arbeiten eine ideale Weltanschauung vertreten und entwickelt hat“ erhielt. Das war Richard David Precht noch nicht vergönnt.
Aktueller denn je: von der Sinnsuche in einer materiell-technologiegetriebenen Welt



„Der Sinn und Wert des Lebens“, 1908 erschienen, sowie „Mensch und Welt“ von 1918 gelten als seine beiden Hauptwerke. Hierin beschreibt er “Eine Philosophie des Lebens”, so der Untertitel des späteren Bands, und fordert auf zu ganz praktischem Handeln. Denn durch die Industrialisierung fürchtete er die Menschen in Gefahr, sich selbst zu verlieren. Er sah eine gefährliche „Scheinkultur des Technischen“ aufziehen, auch eine „fiebrige Arbeitskultur“, die die Seele belaste und den Menschen immer mehr von dem entferne, was ihn eigentlich ausmache. Das „Beisichselbstsein des Lebens“ galt es anzustreben, und damit ein „heiler Zustand“, der erst ein glückliches Leben ermögliche. Eucken forderte eine stärkere Auseinandersetzung mit der Natur, um den Menschen wieder zur Ganzheitlichkeit zu bringen.
Damit klingt Eucken in Zeiten des Turbokapitalismus und der Rundum-Verfügbarkeit des arbeitenden Menschen wieder unglaublich modern. Und auch von Richard David Precht ist er inhaltlich gar nicht so weit entfernt, der heute ebenfalls ein Überdenken und Umdenken der bestehenden Leistungsgesellschaft und Arbeitskultur für dringend geboten hält. Und auch ein Roger Willemsen klingt bereits durch, der in seinem posthum veröffentlichen Buchband “Wer wir waren”, seine Angst um die Menschen formulierte, die durch die technischen Optionen der sozialen Medienwelt und die Bedingungen der realen Arbeitswelt ihr eigentliches Leben aus dem Blick verlören.
Eucken galt in der philosophischen Wissenschaft als Außenseiter, dem es an Systematik und notwendigem Theoriegebilde der Gelehrtenphilosophie fehle. Sein Literaturnobelpreis wurde hierzulande denn auch von den Kollegen der Wissenschaft eher zurückhaltend aufgenommen. Im Jahr zuvor war mit Rudyard Kipling, dem berühmten Autor des Dschungelbuchs und mit 41 Jahren jüngsten Literaturnobelpreisträger, ein originärer Schriftsteller ausgezeichnet worden. Auch im Jahr darauf erhielt mit der Schwedin Selma Lagerlöf nicht nur die erste Frau in der Geschichte den Literaturnobelpreis, sondern wieder eine waschechte Autorin, die solch bekannter Werke wie Nils Holgersson verfasst hatte. 1908 bildete mit dem schreibenden Philosophen Eucken eine Ausnahme in der langen Reihe der Preisträger.
Im Ausland ein gefeierter Superstar
In Schweden, besonders aber in Amerika und England kam Eucken dagegen beim breiten Publikum und den Fachkollegen ausgesprochen gut an. Hier sah man es ihm nach, dass er ein wenig lässig war im Umgang mit den wissenschaftlichen Termini und dem Fehlen eines geschlossenen Gedankengebäudes.

Hier zählte die Idee, man erkannte in ihm einen „inspirierten und profunden Philosophen“. Die Universitäten überboten sich mit Einladungen zu Vorträgen und Angeboten zu Gastprofessuren. Es gründeten sich allerorten „Eucken-Associations“, die seine Philosophie verbreiteten, die darauf abzielte, die im Leben der Moderne verloren gegangene Einheit von Fühlen und Denken wiederherzustellen.
Noch heute ist Eucken im angelsächsischen Raum ein weitaus bekannterer Lebensphilosoph als in Deutschland. Der Autor aus Ostfriesland erfährt dort in den letzten Jahren sogar eine regelrechte Wiederentdeckung.
In Deutschland waren es vor allem die gebildeten Mittelschichten, die ihn auch zu seiner Zeit verehrten. Sie feierten ihn als ihren Literaturnobelpreisträger, der es in seinen Vorworten auch nicht an einem gehörigen Schuss Nationalismus und Patriotismus fehlen ließ, als der Zweite Weltkrieg anbrach. Sie strömten 1920 in den nach amerikanischem Vorbild gegründeten „Eucken-Bund“, in dem sich die idealistischen Geister der Zeit trafen.
Eucken gilt als Begründer des Neo-Idealismus. Seine Philosophie ist ein Aufruf zur Besinnung und Umkehr, weg vom reinen Materialismus zur geistigen Vertiefung des Lebens. Zum Schluss ein Ausschnitt aus dem Vorwort zu seiner Autobiografie “Lebenserinnerungen”, geschrieben im Oktober 1920:
“Meine Jugendzeit hatte weit einfachere und ruhigere Zustände, als sie uns später umfingen, das Leben verlief in engeren Bahnen, noch fehlte der riesenhafte Aufschwung der Technik, es fehlten die Großstädte mit ihrer Anhäufung der Massen, es fehlte die Beherrschung des Lebens durch die Fabrik, es verschlang noch nicht eine fieberhafte Arbeitskultur das ganze Leben. Wer einen andersartigen Stand der Dinge erlebt hat, dem müssen, auch bei voller Anerkennung der Leistungen, die Schranken und die Gefahren dieser Wendung gegenwärtig sein. Dann muss er aber nach bestem Vermögen diesen Gefahren entgegenwirken und für einen Selbstwert des Lebens eintreten.”
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