Dichtung und Wahrheit: der “echte” Gauß

Zum 200. Jubiläum der „Königlich Hannoverschen Landvermessung“ wird der komplette Briefwechsel zur historischen Mission unter Leitung von Carl Friedrich Gauß erstmals in transkribierter Form veröffentlicht. Mehr als tausend Briefe zeichnen ein neues Bild vom berühmtesten Vermesser der Welt. Geplant hatte er anfangs mit etwa 400, am Ende sind es genau 1072 handschriftliche Briefe in altdeutscher Schrift, die nun für jedermann lesbar in Druckschrift und ins Hochdeutsche transkribiert vorliegen. Das zunächst überschaubare Unterfangen nahm im Verlauf immer gewaltigere Dimensionen an. Neue Korrespondenz von und an Gauß tauchte auf, so wurden 200 verschollen geglaubte Briefe zwischenzeitlich entdeckt. Der letzte aus Washington D.C. erreichte André Sieland noch Anfang 2021.

Sieland ist Vermessungsexperte wie Gauß, Fachgebietsleiter im Landesamt für Geoinformation und Landesvermessung Niedersachsen (LGLN) in Hannover, und damit zuständig für die Festpunkte der Gegenwart. In dieser Funktion erhielt er 2017 in Vorbereitung auf das bevorstehende Jubiläum eine Anfrage der Kollegen vom Landesamt für Denkmalpflege nach den alten Gauß’schen Messpunkten in Niedersachsen. Nur etwa 17 nachgewiesene seien ihnen bekannt. Doch schon erste Überprüfungen Sielands ergaben, es sind einige mehr. Schnell hatte er 120 gelistet, und bekam zunehmend Spaß an den Nachforschungen. Er investierte immer mehr Freizeit und schließlich jede freie Minute in das Projekt, unternahm Exkursionen und Wanderungen am Wochenende, traf auf leidenschaftliche Heimatkundler und konnte manch originalen alten Messpunkt neu verorten wie auf der Insel Langeoog oder sogar wiederentdecken wie auf dem Haußelberg in der Lüneburger Heide.

Der Schatz: die Göttinger Datenbank voller Originalbriefe

Die spannende Spurensuche führte ihn unweigerlich auch zu den Briefen von Gauß, der persönlichsten Quelle zur Planung und zum Ablauf der berühmten historischen Landesvermessung. Dank der langjährigen Forschungsarbeit von Menso Folkerts, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Experte für die Geschichte der Naturwissenschaft, konnte die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ein öffentlich zugängliches Archiv aufbauen (www.gauss.adw-goe.de), das den gesamten bekannten Briefwechsel des berühmten Mathematikers listet. Sortiert nach Autor, Datum, Ort oder Sprache sind sie dort zu finden, viele von ihnen bereits in digitalisierter Form vorhanden, in Teilen auch schon transkribiert.

Es war eigentlich alles schon da. Es musste nur noch einer kommen und sich an die Arbeit machen: In jahrelanger Forschung transkribierte Sieland Brief um Brief der Gauß’schen Korrespondenz, wissenschaftlich stets begleitet von Folkerts und Axel Wittmann von der Gauß-Gesellschaft. Gauß korrespondierte Zeit seines Lebens viel und regelmäßig: 8.156 Briefe, privater und offizieller Natur, zählt allein die digitale Göttinger Datenbank. Die Briefe mit einem Bezug zur Königlich Hannoverschen Landesvermessung datieren vom 17. April 1816, dem ihm sein später engster Mitarbeiter Georg Wilhelm Müller sendete, bis zum Abschlussbericht, den Carl Friedrich Gauß am 15. März 1848 in Göttingen selbst verfasste. In drei Bänden stellt Sieland diesen Zeitraum nun in Briefen vor, erstmals in kompletter Transkription.

Am 9. Mai 1820 erteilte König Georg IV, damals Herrscher über Großbritannien und Irland sowie über das Königreich Hannover, per Kabinettsorder den Auftrag zur „Gauß’schen  Gradmessung“. Am 26. April 1821 schließlich steigt Müller zu ersten Erkundungen hoch auf den Turm der Marktkirche in Hannover und den der Kirche St. Marien in Lüdersen. Dieser Tag gilt gemeinhin als der Startpunkt der historisch gewordenen Expedition, die später zur „Triangulation des Königreichs Hannover““ erweitert wurde und insgesamt lange 23 Jahre dauern sollte.

Am 2. Oktober 1844 schickt Gauß’ Sohn Carl Joseph einen Brief aus Stade, wo die letzten Lücken der Vermessung zuvor noch geschlossen wurden und er die „Arbeit als geschlossen betrachte“. Die Instrumente, ein Theodolit und zwei Heliotrope, seien versandfertig für den Transport nach Göttingen, „dem Spediteur Köpke übergeben“. So endet ganz unspektakulär ein Projekt, das die moderne Geodäsie begründete, bedeutende technologische Innovationen hervorbrachte und den Aufstieg Deutschlands zur führenden Nation im Vermessungswesen markierte.

Der “echte Gauß”: anders als der im Roman

In dem auch international erfolgreichen Buchbestseller von Daniel Kehlmann, „Die Vermessung der Welt“, durfte Carl Friedrich Gauß neben Alexander von Humboldt als einer der berühmtesten Naturwissenschaftler deutscher Herkunft und seiner Zeit brillieren. Als Romanfigur wurde er spätestens all denen ein Begriff, die sich sonst eher nicht mit Fragen zur Mathematik und Vermessung beschäftigen.

Das ist der hohen Kunst des für sein Werk vielfach ausgezeichneten Autoren zu verdanken. Doch handelt es sich dabei um Literatur, und selbst mit viel historischer Recherche, die auch Kehlmann unternahm – etwa bei der Göttinger Gauß-Gesellschaft – bleibt sie letztendlich Fiktion. Die in diesem Fall aber das Bild, das sich die meisten heute von Gauß machen, deutlich prägte.

Durch die intensive Beschäftigung mit seinen Briefen hat Sieland tief in die Gedankenwelt des Göttinger Genies und dessen Mitstreiter blicken können. Mit vielen Vorstellungen, die wir uns auch durch den Roman gemacht haben, muss er allerdings aufräumen: „Bei manchen Behauptungen über Gauß ist sogar genau das Gegenteil zutreffend.“

So war Gauß beispielsweise alles andere als reiseunlustig. Bis zu einem Unfall mit der Kutsche in 1825 sei er gerne unterwegs gewesen für seine Messungen, wie den Briefen zu entnehmen sei. Auch war er nicht so herrisch, wie im Roman dargestellt: „Er war zweifelsohne ein Mann mit hohen Ansprüchen, der einen hohen Maßstab an die Genauigkeit seiner Messung legte. Das galt für ihn wie auch für die Mitarbeiter. Da konnte er auch mal fordernd sein, doch keinesfalls zornig.“ In der Realität, ganz anders als in der literarischen Interpretation, hat er sich bei seinem Besuch in Berlin und bei von Humboldt wohl gefühlt, sich dort drei Wochen aufgehalten und sei nicht wie im Roman nach drei Tagen missmutig wieder abgereist. Der Aufenthalt „ist für mich in jeder Beziehung höchst genussreich gewesen“ schreibt Gauß im Original.

Mit seinen Kindern sei er ebenfalls nicht ganz so herzlos und streng umgegangen wie es im Buch den Anschein hat, eher typisch für die Zeit. Auch wenn es sachlich korrekt sei, dass sein Sohn Eugen nach Amerika ausgewandert ist. „Die Umstände, die zu seiner Auswanderung führten, sind jedoch wieder Werk der Dichtung. Da vermischt sich vieles“, stellt Sieland fest.

Ein wenig Luxus gönnte Gauß sich auf Reisen aber gerne, wie aus den Briefwechseln hervorgeht: Er legte Wert auf ein „Zimmer mit Sofa“ sowie auf einen gut gefüllten Weinkeller  – und ließ dieses bei den Erkundungen seiner Mitarbeiter, die einer Expedition grundsätzlich vorausgingen, prüfen. Diese gewisse Anspruchshaltung, immerhin war Gauß Hofrat, nutzt Kehlmann im Roman zu einer sehr amüsanten Szene, in der er den „Fürsten der Mathematik“ auf einer Holzpritsche übernachten lässt. Während sein legendärer Ruf bis zum Grafen von Ohe zur Ohe in die Provinz vorgedrungen ist, hat dessen Diener nie von Gauß gehört, so dass er versehentlich in einer Kammer übernachten muss, die für Gesindel und Herumtreiber reserviert ist.

Mit subtilen Humor nimmt sich hier der Erzähler Kehlmann eines Themas an, das auch in der Realität eine große Rolle in der Planung der einzelnen Etappen spielte: eine passende Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Und die war im Weiler Ober-Ohe 1822 tatsächlich bescheiden. Wie Müller am 18. Juli des Monats an Gauß schreibt, gibt es „ein rechtliches Stübchen nebst Schlafkammer und Bett in einem Nebenhäuschen, gefällige Leute, aber nur ländliche Kochkunst.“

Terra X in Briefen: Georg Wilhelm Müller

Wie kaum ein anderer in Deutschland kann Sieland im Fall von Gauß zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden. Für die meisten ist die Romanfigur jedoch identisch mit dem echten Gauß, vor allen Dingen, wenn sie so meisterhaft gestaltet ist wie bei Kehlmann. Zu den neuen Wahrheiten, die er beim Studium der über tausend originalen Briefe gewonnen hat, gehört für Sieland auch die überraschende Erkenntnis: „Die Königlich Hannoversche Landesvermessung ist zwar fest mit dem Namen Gauß verbunden, doch der entscheidende Mann des gesamten Projektes war Georg Wilhelm Müller. Für mich ist er die eigentliche Hauptfigur und mit seinem plötzlichen Tod im Jahr 1843 der tragische Held dieser Geschichte.“

Der ehemalige Student von Gauß und spätere Hauptmann im hannöverschen Artillerieregiment war von den ersten Vorbereitungen in 1816 mit dabei. Er hat unermüdlich daran gearbeitet, unterwegs keine Strapaze gescheut, und selbst ein Schlüsselbeinbruch hat ihn nicht abhalten können, weiterzumachen. Außerdem hat er wundervolle Briefe geschrieben, die heute noch ein unglaublich lebendiges Bild von den Messungen an der ostfriesischen Küste und auf den Inseln geben – ganz oben auf zugigen und schwankenden Kirchtürmen, im Wolkendunst von Moorbränden oder gepeitscht vom Flugsand – und von den Gefahren und der Abenteuerlust berichten, die es brauchte, um im Feld seine Messdaten zu gewinnen: Terra X in Briefen. Da Müller kurz vor der letzten, noch fehlenden Messung starb, konnte er sein großes Lebensprojekt nicht mehr selbst beenden. Das hat Gauß Junior übernommen und ist somit in die Annalen eingegangen.

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Correspondenzen der Königlich Hannoverschen Landesvermessung (1821–1844), herausgegeben und bearbeitet von André Sieland, 3 Bände, Verlag Kessel, Remagen, 2021

Der erste und zweite Band begleitet in Originalbriefen von insgesamt dreizehn Personen die Gauß’sche Gradmessung und Triangulation des Königreichs Hannover von den ersten Vorbereitungen in 1816 bis zur letzten Messung von 1844. Im dritten Band geht es um die Nachbereitung bis zum Abschlussbericht in 1848. Im Anhang sind 75 weitere Briefe aus der privaten Korrespondenz zu lesen, bis zum letzten des Sohnes an Gauß vom 6. Februar 1855. Mit der aktualisierten Karte vom Gauß’schen Dreiecksnetz finden sich im Schlussband auch die Koordinaten der Hauptpunkte und ermöglichen Heimatforschern eine exakte Verortung. Zusätzliche Kapitel mit den Lebensläufen der Protagonisten, zu Ausrüstungsgegenständen, den historischen Hinterlassenschaften und zum Zahlungsverkehr runden das Werk ab (ISBN 978-3-945941-69-0).

Anmerkung d. Verf.: Von Georg Wilhelm Müller existiert leider kein Bild mehr.


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