Sie gilt als die unangefochtene „Königin der Kurzgeschichte“. Immerhin hat sie mehr als 600 davon in ihrem Leben geschrieben, immer ganz nah am Zeitgeist und den absurden Dingen, die Menschen im Alltag so treiben. Zu ihren erfolgreichsten Zeiten gehörte sie wie die Schriftstellergrößen Grass und Böll zum literarischen Inventar der Bonner Bundesrepublik.
Die Schriftstellerin mit dem scharfen Blick auf die kleinen Dinge des Lebens war zeitlebens in Darmstadt zu Hause, dem Sitz des PEN-Zentrums und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Hier wurde sie am 21. Mai 1932 geboren, hier starb sie am 22. Juni 2015 im Alter von 83 Jahren. Doch sie, die so fest an ihrem heimatlichen Nest hielt, ist in ihren jungen Jahren Richtung Norden ausgeflogen – nach Langeoog.
Hierhin zog es sie gleich zweimal: 1950 als Abiturientin für ein Jahr und drei Jahre später nochmals zusammen mit ihrem Mann Reiner, den sie gerade geheiratet hatte. 1954 ging es nach dem zweiten Intermezzo auf Langeoog dann wieder endgültig zurück nach Darmstadt. Wie kommt aber ein junges Mädchen dazu, plötzlich auf ein Internat an die ferne Nordsee zu gehen?
„Die Entscheidung kam von mir, von mir allein. Ich wollte einfach mal weg, weg vom Schulbetrieb, aber auch in die Selbstständigkeit, das wollte ich, das musste sein“, erzählte Wohmann später ihrer Biografin Ilka Scheidgen. So verließ die Achtzehnjährige die Darmstädter Viktoriaschule und ging unterstützt von ihren Eltern für ein Jahr auf das private Nordsee-Pädagogium der Insel Langeoog. Hier fand sie, was sie suchte: „Die Mädchen und Buben wohnten in verschiedenen Familien, über die Insel verteilt und nicht in einem Gebäude. Das war ein vollkommen selbstständiges Leben, plötzlich.“
Das Nordsee-Pädagogium und spätere Nordsee-Gymnaisum auf Langeoog blieb noch viele Jahre nach Gabriele Wohmanns Aufenthalt kein typisches Internat. Die Kinder lebten über das ganze Dorf verstreut, den Lehrern dienten Räume in verschiedenen Hotelbetrieben als Klassenzimmer. Der Hauptsitz der Schule befand sich im ehemaligen Traditionshotel „Germania“ im Ortskern der Insel, dem heutigen „Hotel Dünenläufer“. Erst 1968 konnte das Internat einen Neubau beziehen, in dem alle gemeinsam Platz fanden. 1988 schloss das Gymnasium der Insel endgültig.



Die Ostfriesischen Inseln waren für die junge Darmstädterin 1950 keine Unbekannten. Ihr Vater Paul Daniel Guyot, Direktor des Hessischen und Rheinisch-Westfälischen Diakonie-Vereins, verbrachte die Sommerferien mit seiner Familie immer an der Nordsee. Auf das Langeooger Internat wurde seine Tochter Gabriele, wie sie sich später erinnerte, durch ein Inserat in der Zeitung aufmerksam. Aufgrund ihrer guten schulischen Leistungen konnte sie die Unterprima überspringen, so dass ihr auf Langeoog nur noch ein Jahr bis zum Abitur blieb. Das wurde damals noch extern auf dem Festland, in Norden auf dem Ulrichsgymnasium, abgelegt.
„Es kann nicht Sinn der Kunst sein, die Welt, in der wir leben, zu ignorieren, und das bringt mit sich, dass sie wenig heiter ist“ (Ernst Jünger) oder „Ernst ist das Leben, heiter die Kunst“ (Schiller) – Welcher Ausspruch kommt Ihrer Meinung nach der Wahrheit am nächsten? Das war die Frage, die sie in ihrem Abituraufsatz zu diskutieren hatte. Wie Gabriele Guyot sie beantwortete, ist nicht bekannt, aber dass sie eine Bestnote dafür bekam. Die ostfriesischen Pädagogen erkannten schon früh das schriftstellerische Talent der Abiturientin: Ihr Aufsatz zeige „eine ungewöhnliche Beherrschung des Wortes“. Weiterhin heißt es in der Beurteilung, dass ihre Arbeit Zeugnis ablege „von einer ungewöhnlichen Aufgeschlossenheit für die Welt des Ästhetischen“. Man gab ihr ohne Einschränkung ein „sehr gut“.
Nach dem Abitur kehrte sie 1951 ins Elternhaus nach Darmstadt zurück, und begann in Frankfurt ein Studium in den Fächern Germanistik, Romanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Das beendete sie zwar nicht, aber an der Universität lernte sie ihren Studienkollegen Reiner Wohmann kennen, ihren Ehemann und Lebenspartner, unter dessen Namen sie als Schriftstellerin dann so bekannt werden sollte. 1953, kurz nach ihrer Heirat, unterbrechen beide ihr Studium:
„Wir gingen als Aushilfslehrer an das Nordsee-Pädagogium, in dem ich mein letztes Schuljahr verbracht hatte. Ich wusste, dass der Direktor ein sehr origineller Mensch war, der uns, die wir beide kein abgeschlossenes Studium hatten, als Hilfslehrer nehmen würde. Und er nahm uns auch sofort. Wir hatten eine Stelle zu zweit. Von viel verdienen konnte natürlich nicht die Rede sein. Wir bekamen 175 DM bei freier Kost und Logis.
„Aber wir hatten beide die Begeisterung fürs Meer, und es war einfach sehr schön!“
Auch Reiner Wohmann gerät bei der Erinnerung an dieses eine Jahr Inselerfahrung noch Jahrzehnte später gegenüber der Biografin ins Schwärmen: „Wir haben viel gebadet, auch wenn das Wasser sehr kalt war. Im Winter war es so kalt, dass das Wattenmeer zugefroren war, und der ganze Strand war mit riesigen Eisschollen zugedeckt. Schiffe konnten nicht mehr fahren, und die Insel musste über Hubschrauber versorgt werden.“
Ihre Zukunft sahen sie dann aber doch wieder im Rhein-Main-Gebiet. Nach einem Jahr Inselleben ging es 1954 für die beiden endgültig zurück. Sie kamen unter im großen Pfarrhaus ihrer Eltern in Darmstadt. Reiner Wohmann nahm sein Pädagogikstudium in Frankfurt wieder auf und beendete dieses mit dem Staatsexamen. Gabriele Wohmann dagegen begann intensiv zu schreiben. Sie unterrichtete zwar nebenher noch ein paar Stunden, doch nach dem Jahr auf Langeoog wurde ihr eigentlicher Lebensinhalt die Literatur: „Das waren meine Schreibanfänge“. 1957 wurde sie dann schlagartig bekannt mit ihrer Erzählung „Ein unwiderstehlicher Mann“.
Der Start in eine Schriftstellerkarriere, die im westlichen Nachkriegsdeutschland ihresgleichen sucht: Bis 1958 hatte sie bereits 64 Kurzgeschichten geschrieben, ihnen folgten im Laufe ihres Lebens zahlreiche weitere: Die dreibändige Taschenbuchausgabe zu „Gesammelte Erzählungen aus Dreißig Jahren“ umfasste 1986 schon 600 Seiten. Dazu kommen unzählige Essays, Romane, Drehbücher, Hörspiele, Theaterkritiken. Ihren größten Erfolg hatte sie 1974 mit „Paulinchen war allein zu Haus“, einem scharfzüngigen Roman über moderne Erziehungsmethoden.
Sie erhielt das Villa-Massimo-Stipendium der Bundesrepublik Deutschland, viele berühmte Literaturpreise. Die Politik ehrte sie mit dem Großen Bundesverdienstkreuz, dem Hessischen Kulturpreis, der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Doch den bedeutendsten Literaturpreis Deutschlands erhielt sie Zeit ihres Lebens nie: den Darmstädter „Büchner-Preis“ ihrer geliebten Heimatstadt.

Das Meer ist für mich eine Öffnung himmelwärts.
Ich habe früher schon immer gedacht: Darmstadt liegt mir zu sehr im Inneren, ist viel zu weit entfernt vom Meer. Das Meer aber ist ein Schlusspunkt. Und auch ein Anfang, der Anfang von etwas, von etwas ganz Anderem.
(Aus: Gabriele Wohmann: Sterben ist Mist, der Tod aber schön, 2011)
Gabriele Wohmann und ihr am 9. März 2017 verstorbener Mann Reiner sind auf dem alten Bessunger Friedhof in Darmstadt begraben, ganz in der Nähe zu den Orten ihrer Kindheit. Seit 2017 gibt es in der südhessischen Metropole auch einen Gabriele-Wohmann-Weg. Auf Langeoog erinnert nichts an die bedeutende Absolventin des Nordsee-Pädagogiums.
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Literaturhinweise




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