Das ist, was am Ende übrig blieb von der bedeutenden Königlich Hannoverschen Landvermessung: eine große Holzkiste. Sie enthielt Abschriften sämtlicher Daten und Berechnungen von Gauß und seinem Team und wurde am 15. März 1848 an das hannoversche Innenmisterium gesandt. Darin befanden sich 35 Hefte mit Messungsjournalen, sechs Hefte Abrisse und das Koordinatenverzeichnis. Zwischen diesen Buchdeckeln reihten sich die Zahlen, Daten und Fakten einer 23 Jahre langen Forschungsreise. Von Anfang an war Georg Wilhelm Müller mit dabei.
Er war von 1807 bis 1808 einer der ersten drei Studenten, die Gauß als Professor an der Georg-August-Universität in Göttingen unterrichtete. Er ging als Lehrer an die Artilleriesschule nach Hannover, bevor er 1821 erst Assistent und dann neben Friedrich Hartmann und Gauß’ Sohn Carl Joseph einer der wichtigsten Mitarbeiter der Landvermessung wurde.
Wenn man sich die Übersicht der gemessenen Dreieckssysteme anschaut, dann stellt man schnell fest, das seit 1828 Müller an fast jeder Vermessung des Projektes beteiligt war: so im Eichsfeld (1828), Lüneburg (1830), Mittelweser (1833), Oberweser (1838), Bremen (1839) und schließlich 1841 bei Ostfrieslands Küstenregion, die er selbstständig im Auftrag von Gauß vermaß.

Gauß erreichte in seiner Triangulation des Hauptsystems 1821-25 Friesland (rot), das Landesinnere von Ostfriesland vermaß Hartmann 1839 (blau), die Küste und die Inseln schließlich Müller 1841 (schwarz). Dort fand er ungewohnt widrige Verhältnisse vor. Vor allen Dingen der Sand machte ihm auf den Ostfriesischen Inseln zu schaffen:
Die diesen Sommer über vorherrschend gewesene stürmische und regnigte Witterung war der Messung nicht günstig, führte jedoch bey Besetzung der Plätze auf den Inseln den Vortheil mit sich einigermaßen die Heftigkeit des Sand Wehens zu mildern, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann ohne an Ort und Stelle gewesen zu seyn. Die Versuche durch Aufstellung einer SchutzWand an der WindSeite den Theodolith zu schützen führte dabey zu keinem günstigen Resultate, indem der Sand sich dann nur desto stärker niederschlug. Das Beste war noch die Wind Seite ganz frey zu laßen, wo sich dann nur auf der durch das Instrument selbst gegen den Windstrich geschützten Theilen Sandkörner ansammelten. Auf Borkum mußte ich um die Messung fortsetzen zu können den Theodolith ganz auseinander nehmen und vom Sandstaube reinigen. An trockenen Tagen führte selbst oben auf dem Borkumer Leuchtthurme der Wind noch Sandkörner mit sich.
Das ist einer Art Abschlußbericht zu entnehmen, den Müller am 19. Oktober 1841, schon wieder zurück in Hannover an Gauß schreibt. Besonders schwer waren die Umstände wohl in Dornum, wie dem Brief auch zu entnehmen ist:
Unter den Thurm Plätzen war der Dornumer Schloß Thurm durch Mangel an Festigkeit der guten Ausführung besonders nachtheilig. […] Dabei hat der Thurm zwey Laternen mit Kuppeln übereinander; für die untere wird der Horizont größtentheils durch die hohen Bäume des SchloßParks und Gartens begränzt, die Messung mußte daher in der oberen Laterne vorgenommen werden, in welche der Theodolith nur von außen heraufzubringen war. Die große Fläche die der obere Theil des Thurms der Einwirkung des Windes darbot hatte bey der geringen Festigkeit des Fuß Gebälks eine förmlich schaukelnde Bewegung des Thurms zur Folge, sobald der Wind einigermaßen heftig wurde, welches während des Messungs Aufenthalts daselbst fast täglich eintrat und sich besonders nachtheilig äußerte wenn der Wind in Stößen kam.
Das Leben eines Landvermessers glich damals noch einem Abenteuer und war nicht ganz ungefährlich. Dagegen half nur eine gründliche und ausführliche Vorbereitung jeder Reise, die Müller laut dem besten Kenner seiner Korrespondenz, André Sieland, besonders auszeichnete. Der Geodät vom Landesvermessungsamt in Hannover beschreibt Müller als jemand, der die Dinge sehr zielstrebig und mit Überblick über den Gesamtzusammenhang anging. “Seine selbstlose Art, seine Arbeit auch unter körperlichen und gesundheitlichen, auch gefährlichen Strapazen voranzutreiben” hat ihm bei den vielen Expeditionen im manchmal unwirtlichen Norden geholfen.
Zudem hatte er den persönlichen Anspruch höchste Genauigkeiten beim Winkelmessen zu erreichen und Messfehlern auf den Grund zu gehen. Diese Eigenschaften und die unbedingte Loyalität zu Gauß senior, haben ihn relativ immun gemacht gegenüber Sticheleien von Gauß junior, die in späteren Jahren anscheinend aus der Korrespondenz herauszulesen sind. Der neidete Müller wohl den Aufstieg zum Major der Artillerie im Königlich Hannoverschen Generalstab. Der “alte” Gauß habe, so Sieland, freundlich und unvoreingenommen mit Müller korrespondiert. Kritik gab es nur einmal: an einer in seinen Augen ungerechtferigt hohen Auslagenrechnung.
Georg Wilhelm Müller starb überraschend mit 57 Jahren am 3. Mai 1843 in Hannover, nur zwei Jahre nach seiner Vermessungsreise, die ihn auf die Ostfriesischen Inseln und an die Küste führte. Das Ende der Königlich Hannoverschen Landesvermessung und die Zustellung der Kiste mit den Ergebnissen hat er nicht mehr erleben dürfen. Er wurde unter ungewöhnlich großer Anteilnahme begleitet von zwei Artilleriekompagnien auf dem Gartenfriedhof in Hannover beerdigt. Sein Grab dort ist nicht zu übersehen: Über einem Sockel mit Schwertern und Inschrift erhebt sich hoch ein Obelisk.
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Quelle: Der Brief eingangs oben links ist ein Originalbrief von Müller an Gauß vom 2. Juli 1839. Er zeigt beispielhaft wie eine Netzskizze aus damaliger Zeit ausgesehen haben kann (SUB, Sig. Cod. MS. Gauß Briefe A, Müller, G. W. 220).
Die Aufnahme der Kiste mit dem gesamten Berichten der Königlich Hannoverschen Landesvermessung stammt von einer Ausstellungs CD-ROM der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen wie auch die Karte, die sich auf folgende Publikation bezieht: Carl Friedrich Gauß: Werke, Band 9, hrsg. von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaft, Leipzig 1903.
Die Transkription des Briefes vom 19. Okober 1841 von Müller an Gauß ist von André Sieland, Fachgebietsleiter beim Landesvermessungsamt in Hannover und Experte für historische Vermessungspunkte.
Von Georg wilhelm Müller ist leider kein Bild überliefert.
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