Die Vermessung der Welt oder ganz viele Dreiecke für Ostfriesland

Über Carolinensiel und Wangeroog bin ich westlich nicht hinausgekommen. Außer auf Norderney soll auf den übrigen Inseln kaum ein Unterkommen zu finden seyn, Postament und Signalpfähle müßen vom festen Lande herbeygeholt werden, bey stürmischer Witterung ist man festgebannt; zwischen Wangeroog und Borkum, die 11 Meilen auseinander liegen, sollen auf den übrigen Inseln gar keine Thürme liegen, die von Ferne sichtbar sind, und dabey die Kuppen der Sand-Dünen, welche die höchsten Punkte abgeben, sehr beweglicher Natur seyn.

Ostfriesland ist am 29. März 1841 noch Terra Incognita für Georg Wilhelm Müller. Doch das sollte sich bald ändern, denn der Empfänger dieser Zeilen ist kein geringerer als Carl Friedrich Gauß, der mit der Landesvermessung des Königreichs Hannover beauftragt war. Seit 1821 ist man schon dabei, das ganze Land mit Dreiecken zu überziehen und zu vermesssen, doch eine Randzone fehlt noch: die ostfriesische Küste und ihre vorgelagerten Inseln.

Und Müller sollte derjenige sein, der diese Leerstelle nur wenige Monate später füllte. Kein einfaches Unterfangen: Denn ein Landesvermesser braucht zum Ausüben seiner Disziplin hohe Punkte in der Landschaft, von denen aus er weit über das Land peilen kann. Und das war damals auf den Inseln tatsächlich einigermaßen schwierig. Norderney hatte seinen Leuchtturm (1871-74) noch nicht, Langeoog war noch ohne Wasserturm (1909). Es gab 1841 tatsächlich nur den Alten Leuchturm auf Borkum (1816) ganz im Westen und den Westturm auf Wangerooge (1597-1607) im Osten. Dazwischen waren Dünen die einzige Erhebung weit und breit.

Die Vermessung der Welt war im 19. Jahrhundert in vollem Gange, gebar ihre neuen Helden, wenigstens international:

Übrigens habe er große Bewunderung für die Vermessungsarbeit. Es sei eine wunderliche Beschäftigung, monatelang mit Instrumenten herumzuziehen.


Nur wenn man das in Deutschland tue. Wer das gleiche in den Kordilleren mache, werde als Entdecker gefeiert.

Um diese “wunderliche Beschäftigung” dreht es sich im neuen Schwerpunkt von Ostfriesland Reloaded, um die Geodäsie – unter deren sperrigen wissenschaftlichen Namen man die Kunst der Landvermessung und Vermessungstechnik auch kennt. Im Interview mit dem Experten vom Landesvermessungsamt in Hannover klärt das Spezial, was es mit dem Granitstein auf Langeoog auf sich hat. Ein Briefwechsel zwischen Norderney und Göttingen bezaubert noch heute durch seine lebendige Darstellung der ostfriesischen Vermessungsarbeit. Das Portrait von Georg Wilhelm Müller, der zentralen Figur für die Vermessung von Inseln und Küste, gibt spannende Einblicke in die abenteuerliche Arbeit eines Geodäten damals.

1820 beauftragte König Georg IV. von Hannover den berühmten Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß mit der Gradmessung und später der Triangulation seines gesamten Königreiches. 1821 startete Gauß seine Mission. Zunächst, bis 1825 unterzog er sich noch allein den Strapazen im Feld, später erledigten das für ihn Friedrich Hartmann und Georg Wilhelm Müller, die damals beide als Lehrer an der Königlich Hannoverschen Artillerieschule und der Generalstabsakademie arbeiteten. Auch sein Sohn Carl Joseph Gauß unterstützte ihn.

Sie waren allesamt Entdecker und Pioniere, die mit ihren Expeditionen die weißen Flecken auf den Landkarten füllten. Einer der berühmtesten Geodäten seiner Zeit war George Everest, der viele Jahre die Große Trigonometrische Vermessung Indiens leitete. Während man nach dem Briten den höchsten Berg der Welt benannte, wurde Gauß hierzulande der 10 Mark-Schein gewidmet, der letzte vor der Einführung des Euros. Vielleicht gibt es ja auch mal eine Ehrung für Müller, dem ersten Vermesser der ostfriesischen Küste und Inseln. Das 200jährige Jubiläum wäre ein würdiger Anlass.

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Die Karte mit den Triangulations-Dreiecken der ostfriesischen Vermessungen von Geodät Müller erstellte André Sieland, Fachgebietsleiter beim Landesamt für Geoinformation und Landesvermessung Niedersachsen (LGLN), für Ostfriesland Reloaded. Auch das Zitat eingangs stammt aus der Feder des Experten. Es ist einem von rund tausend Briefen zwischen Gauß und seinen Mitarbeitern entnommen. Die transkribierten Fassungen ihrer Korrespondenz werden 2021 in insgesamt drei Bänden als Buch erscheinen. Das zweite Zitat ist aus dem Weltbestseller von Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Rowohlt Verlag, 9. Auflage, 2005, S. 188. Hier spricht Carl Friedrich Gauß über Alexander von Humboldt, der gerade für seine Entdeckungen in Südamerika gefeiert wurde.

Anmerkung:

Seit 1885 heißt die Insel Wangerooge, frühere Bezeichnungen lauteten Wangeroich (1532), Wangero (1597), Wangeröhe (1613), Wrangeroog (1757) und danach Wangeroog (analog zu Langeoog oder Spiekeroog). Bei der Namensänderung von 1885 fügte das Großherzogtum Oldenburg gegen den Widerspruch der Inselbewohner per Erlass ein „e“ an Wangeroog.

Da hat Georg Wilhelm Müller dann doch alles richtig gemacht und Wangeroog korrekt geschrieben. In einer ersten Fassung des Beitrages wurde dieses anders dargestellt. Vielen Dank an Susanne Wittenberg vom Tourismusmanagement Langeoog für die Korrektur und Informationen.


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