Wer etwas über Shanties wissen will, muss auch Dinge über die Menschen wissen, die Shanties gesungen haben, denn sonst kann man nicht verstehen, warum sich die Lieder überhaupt – und dann in dieser Form entwickeln konnten. Denn dass wir zwischen Shanty und Seasong unterscheiden, liegt an den völlig verschiedenen Charakteren dieser beiden Liedarten. Als Shanty wurde nur jenes Lied bezeichnet, das die Seeleute bei der Arbeit sangen.
Von Elisabeth Peters
Diese unmittelbare Verbindung zur Arbeit bestimmt auch die charakteristische Form des Shanty. Seine Strophen bilden zumeist einen Wechselgesang zwischen einem Vorsänger, dem Shantyman, und der Mannschaft. Dabei ist der Vorsänger der führende Teil. Ihm fällt der eigentliche, von Strophe zu Strophe veränderliche Text zu, der erzählend, oft auch anfeuernd, aufmunternd oder belustigend ist und den der Vorsänger nach Belieben und vor allem nach Phantasie und Können improvisierend erweitern oder verändern kann. Es gab für diese Lieder keine feste, gleichbleibende, verbindliche Form. Jeder Shantyman sang sie etwas anders, und ein geübter und herausragender Vorsänger konnte hier immer neue Varianten schaffen, die dann von anderen übernommen wurden und so – wieder variiert – in die Seemannstradition eingingen. Die Mannschaft antwortet im Chor auf den Gesang des Shantyman mit dem meistens gleichbleibenden Refrain, der den Takt für die Arbeit angibt.
Der Name Shanty kommt wahrscheinlich von dem englischen chant für singen und dem französischen Wort für singen, chanter, beziehungsweise chantez, wie es die französisch sprechenden Sklaven unter den Be- und Entladern der Schiffe von New Orleans gebrauchten. Denn aus dem Arbeitsgesang der schwarzen Baumwollstauer in den Südhäfen der Vereinigten Staaten stammt so manches Lied, das später als Shanty auf den Segelschiffen heimisch wurde.
Der erste Hinweis auf das Singen von Arbeitsliedern beim Holen eines Taues – was die Seeleute später shantying nannten – und auf einen Vorsänger, der später shantyman hieß, findet sich in dem Werk eines Dominikanermönches, Felix Fabri aus Ulm, der 1493 auf einer venezianischen Galeere nach Palästina segelte. Shanty-Männer werden beschrieben als Matrosen, die bei der Arbeit singen: «…ein Konzert zwischen einem, der Kommandos aussingt, und den Arbeitern, die singend antworten.»
Arbeitslieder für eine echte Knochenarbeit
Die schwere Arbeit der Seeleute wurde oft unter unvorstellbaren Umständen geleistet. Wenn das Kommando «Alle Mann» kam, das auch die Freiwache einbezog, taumelten die Leute mit verquollenen Augen aus ihren Kojen. Sie nutzten die Gelegenheit zwischen zwei überkommenden Brechern, um die Logistür zu öffnen, tapsten dann in die pechschwarze Nacht und knieten in das eisige Wasser. Kommandos zum Bergen des Groß-Ober-Marsegels gellten über das Deck. Geitaue und Gordings mussten geholt werden, das Fall wurde gefiert, die Brassen bedient. Dann ging’s nach oben, aufwärts in den Riggen an der Luvseite, wo der Wind die Männer an die Wanten drückte. Sie mussten über die Püttingswanten, ihre Körper hingen über der See, wenn das Schiff nach Luv überholte. Manchmal waren die Riggen vereist, dann war die Gefahr noch größer, abzugleiten und in die See zu stürzen – ohne Hoffnung auf Rettung. Weiter aufwärts in den schwankenden Stengewanten, und von dort über den schwarzen Abgrund hinweg in das Fußperd der Marsrah. Wie die Krebse schoben sich die Männer dann auf dem zweizölliigen Fußpferd nach außen in die abscheuliche Finsternis, während sich das Segel gefährlich schlagend über die Rah nach achter blähte. Mit klammen Fäusten schlugen die Männer den Wind aus dem Segel, packten die eisenharten Falten und versuchten, das gefrorene Tuch in einer Brok· auf die Rah zu rollen. Begleitet wurde diese harte Arbeit von wildem Aussingen:
Timmy way, hay, high, ya!
We’ll pay Paddy Doyle for his boots!
Eine gemeinsame Anstrengung erfolgte bei dem laut geschrieenen «boots». Zum Festmachen des Segels wurden dann die Zeisinge um die Rah und das Segel gebunden, wobei auf einer dicken Marsrah je zwei Mann einander helfen mussten. Dann rutschte die Freiwache an den Pardunen abwärts, um so schnell wie möglich wieder in die Kojen zu kommen, während die andere Wache sich Zeit Iieß und auf dem normalen Weg in den Wanten abwärts stieg.
Ziehen, marschieren, drehen: für jede Bewegung das passende Shanty
Ziehen: Wenn es galt, das Tau in einem kurzen, kräftigen Zug zu raffen, wurde ein solcher Short-Haul-Shanty wie eben gesungen: Auf das zumeist einzeilige Solo des Vorsängers folgt der kurze, ebenfalls einzeilige Refrain des Chors. Halyard-Shanties, auch Fall-Shanties wurden Gesänge genannt, die das länger ausholende Ziehen beim Segelsetzen begleiten. Sie sind meist aus vierzeiligen Strophen gebildet, in denen Solo- und Chorzeilen abwechseln. Auf jede Chorzeile können ein oder auch zwei Ruck erfolgen.

Marschieren: Wenn alle Mann das Tau mit den Händen festhielten und, statt am selben Platz immer neu durchzuziehen, damit über das Deck marschierten, um es anzuspannen, zum Beispiel beim Heißen der höheren Rahen, dann sangen die Seeleute eine besondere Art des Halyard-Shanty, die man dieser Arbeitsweise entsprechend Walkaway-Shanty nennt, manchmal auch Stamp-and-go-Shanty, weil die Matrosen oft an bestimmten Stellen laut aufstampften. Verhältnismäßig lange Chorpartien für dieses “Gehen” über Deck und marschmäßiger Rhythmus sind hier typisch.

Drehen: Kaum voneinander zu unterscheiden ist eine dritte Gruppe von Liedern, die zur Bedienung des Gangspills (capstan), des Bratspills (windlass) oder der Pumpen gesungen wurden: Das Gangspill (capstan) war eine Winde, die von den Männern bewegt wurde, indem sie um das Spill herummarschierten und dabei die Spillspaken (schwere, in den Spillkopf gesteckte Stangen) vor sich herschoben, während das Bratspill in vertikaler Richtung gedreht werden musste. Das Gangspill diente vor allem zum Hieven der Ankerkette, und so bilden eine besondere Untergruppe dieser Shanties die Homeward-bound-Songs, die beim Ankerlichten zur Heimreise erklangen. Für die Form dieser Gruppe ist vielfach ein Wechsel von Solozeile, kurzer Chorzeile, neuer Solozeile, wiederholter Chorzeile und längerem Chorsatz kennzeichnend. Eins der bekanntesten Capstan-Shanties ist der Sacramento-Song:
Vorsänger : The camptown ladies
Chor : and a hoodah, and a hoodah
Vorsänger : The camptown race tracks five miles long
Chor: and a hoodah, hoodah day
Voller Chor: Blow, boys, blow for Californio, there is plenty of gold
so I’ve been told, on the banks of Sacramento.

Kommandosache: Mehr ein Rufen als ein Singen
Wie der Arbeitsrhythmus und Arbeitsvorgang die Struktur des Shanty bestimmen, so bildet der Arbeitsruf seinen Kern, um den sich der übrige, immer wieder veränderte oder erweiterte Text rankt. Wir kennen auch im Deutschen solche Kommando-Rufe, die verschiedenste Arbeiten, die in irgendeiner Form gemeinschaftlich verrichtet werden, begleiten. Am gebräuchlichsten ist wohl das Hau-ruck!
Im Shanty gehört der Arbeitsruf zumeist zum charakteristischen Bestand des Chorsatzes. Wir finden ihn aber auch im Text des Vorsängers als Arbeitskommando: Haul the bowline, von der Mannschaft als Arbeitsruf, auf den sie ihre Tätigkeit ausführte, wiederholt : Haul the bowline, the bowline HAUL! Zum Lied wird dieser ständige Wechsel von gleichklingendem Arbeitskommando und Arbeitsruf durch eine sehr einfache Variation der zweiten Halbzeile des Vorsängers:
Haul on the bowline, for Kitty she’s my darling,
Haul on the bowline, the bowline HAUL
Kitty lives in Liverpool, Liverpool’s a fine town usw.
Wir haben hier die einfachste Form des seemännischen Arbeitsliedes vor uns. Sicher ist das Shanty als Liedgattung auch aus dem Arbeitsruf durch solche einfache Variation und Auffüllung entstanden. Das Lied von der bowline gehört zu den ältesten der uns bekannten Shanties, es wird bis ins 16. Jahrhundert zurückdatiert. Die weitaus meisten der uns überlieferten Shanties stammen aus dem 19. Jahrhundert, also der letzten großen Blütezeit friedlicher Segelschifffahrt auf den Weltmeeren.
Auch ein Shantyman hat mal frei: die Poller-Lieder
Das Shanty war der Arbeitsgesang der Seeleute. Der Forebitter, den man auch ein Poller-Lied nennen könnte, dagegen ein Gesang für die Freizeit. Beide kamen um 1830/40 auf, aber ihre große Zeit hatten sie gegen Ende des Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den Shanties und Gangspill-Songs wurden die Poller-Lieder meistens von irgendeinem Instrument begleitet, das gerade zur Hand war: Mund- oder Ziehharmonika, Fiedel oder Banjo. Die Texte waren in aller Regel von der erzählenden Art und handelten von einer Reise oder einem seemännischen Ereignis. Aber auch viele Lieder vom Land, vor allem Trinklieder und auf deutschen Schiffen Lieder aus der Fremdenlegion, wurden in das Repertoire aufgenommen. Man sang auf der Back oder dem Vordeck, vornehmlich in den Passatgebieten. Manchmal war auch eine Fufu-Kapelle mit selbstgebastelten Instrumenten dabei. Die übliche Zeit zum Singen war nach dem Abendessen, wenn die Arbeit an Deck beendet war.

Zum guten Schluss
Zusammenfassend bleibt noch festzustellen, dass Shanties ein Stück Kultur aus der Vergangenheit sind, dass wir dieses Kulturgut bewahren und singend erhalten sollten. Shanties sind oft etwas anderes als das, was die Zuhörer von den Liedern erwarten. Oft sind die Zuhörer, aber auch die Sänger selbst, noch sehr in romantischen Verklärungen verwurzelt, und haben Vorstellungen und Erwartungen, die sich auf nichtssagende Seemannslieder beziehen, die zum großen Teil erst im 20. Jahrhundert erdichtet worden sind, aber leider von vielen Shanty- Chören als Hauptrepertoire gesungen werden.
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(Elisabeth Peters: Vortrag für die International Shanty and Seasong Association, gekürzte und leicht bearbeitete Fassung, 2020; Überschriften von Ostfriesland Reloaded)
Ein Gedanke zu „Shanties für Fortgeschrittene“