An den Küsten Mitteleuropas gibt es wohl kaum einen Landstrich, an dem man dem Meer über eine Strecke von 60 Kilometern so nahe kommen kann, wie in Ostfriesland. Da stören beim kräfigen Strampeln keine mehrspurigen Boulevards, da ist der Blick nicht ständig durch Hotels und Hochhäuser versperrt. Die gesamte Küstenlinie entlang der ostfriesischen Deiche ist Natur pur. Was vermutlich 2015 auch der Grund für Arte war, in seiner Serie „Unterwegs auf dem Nordseeküstenradweg“ mit den Radlegenden Rudi Altig (†), Jeannie Longo sowie Joey Kelly, hier so gut wie keinen Stopp einzulegen. Auf der zweiten Fernseh-Etappe, die das Trio von Emden nach Sylt führte, gab es am äußersten westlichen Ende Ostfrieslands einen Halt in Emden zur Teeverkostung, dann noch kurz beim „Otto“-Leuchttum in Pilsum, dann Schnitt – und schon fand man sich radelnd in Bremerhaven wider. Den gesamten Küstenabschnitt vor den ostfriesischen Inseln hatte die Sendung einfach übersprungen. Da habt ihr was verpasst, liebe Arte-Redakteure und Zuschauer der Sendung!
Denn gerade dieser Teil der Strecke steht für ein ganz besonders intensives Naturerlebnis. Besonders attraktiv sind die Streckenabschnitte entlang der ostfriesischen Küstenlinie, die vor den Deich, also direkt an die Nordsee führen. Die absolute Lieblingsstrecke von Ostfriesland Reloaded ist eine Fahrt von Bensersiel nach Neuharlingersiel. Kaum eine andere Fahrradfahrt in der Region bringt einem die Ostfriesischen Inseln und das Wattenmeer so nahe.
Hier der ultimative Radtour-Tipp: Mit dem Fahrrad an der Wasserkante
In weiten Bögen schwingt sich auf diesem Küstenabschnitt ein gut gepflasterter Weg rund zehn Kilometer die Deichlinie entlang. Rechts über einem stehen die Schafe auf dem Deich und links liegt einem das Wattenmeer zu Füßen. Bei Flut fährt man förmlich mit seinem Fahrrad an der Wasserkante entlang, bei Ebbe zeigen sich Salzwiesen, streckt sich das silbern glänzende Wattenmeer weit vor einem aus.
In der Ferne erheben sich die ostfriesischen Inseln aus dem Wasser. An manchen Tagen sieht man Joke Pouillart und Gerke vom Wattwanderzentrum Ostfriesland, wie sie mit einer Gruppe ambitionierter Touristen die sportliche Wattwanderung von Neuharlingersiel bis ganz hinüber nach Langeoog, zur Meierei am Ostende der Insel, wagen. Die kleinen bunten Tupfen bewegen sich langsam durchs Watt, waten durch die tiefen Priele, passieren Muschel- und Austernbänke, bis sie sich unserer Blicke entziehen.
An anderen Tagen, bei Hochwasser, folgt der Blick dem Weiß der Segelboote, die direkt neben dem Fahrradpedal durch das flache Wattenmeer streifen. Am Horizont sieht man die Inselfähre majestätisch über das Wasser nach Spiekeroog gleiten. Das Wattenmeer ist nun wirklich ein tiefblaues Meer, wenn auch ein sehr flaches und auch nur bis das nächste Niedrigwasser kommt.
Auf dieser Fahrradtour lässt sich im Prinzip beides erleben: Flut und Ebbe. Ist auf der Hinfahrt noch alles unter Wasser, zeigt sich auf der Rückfahrt der erste Schlick, bevölkern Vögel den Saum der sich zurückziehenden Fluten, um hier fette Beute zu machen, grasen Schafe auf den Salzwiesen, die das Wasser gerade freilegt. Das Amphibische des Wattenmeers, dieses Mischwesens zwischen Land und Meer – auf dieser einmaligen Radtour ist man dem UNESCO-geehrten Naturerlebnis ganz besonders nah.
Näher als hier kann man nirgends, aber auch nirgends als Fahrradfahrer dem Meer kommen. Die Piste ist genial. Besonders bei Rückenwind, dann fliegt man förmlich die Küste entlang. Der Asphaltstreifen ist schräg, passt sich der Hanglage des Deiches an. So kann man immer von oben nach unten sausen, sich tief in die Schräge des Deiches herunterfallen lassen, um dann mit dem gewonnen Schwung ohne ein Tritt ins Pedal wieder nach oben zu rollen. Rauf und runter, rauf und runter, und wieder ein Bogen. Ein großer Spaß ist das, unterbrochen nur von den Gattern, die es immer wieder zu passieren gilt. Diese sind alle paar Kilometer angebracht, um die frei grasenden Schafherden ein wenig einzuzäunen. Aber schnell hat man den Kniff heraus, wie man mit dem richtigen Schwung und ohne Abzusteigen die Gatteranlagen durchfährt.
Bei Gegenwind wird diese Strecke schnell kraftzehrend, manchmal sogar unpassierbar. Denn wenn es zu stark von vorne weht, dann ist trotz aller Anstrengung kaum ein Fortkommen möglich. Dann hilft nur die Flucht auf die andere Seite des Deiches, wo man etwas geschützter vor dem Wind seine Fahrt über parallele Radwege und kleine Bundesstraßen fortsetzen kann. Das war jedenfalls so vor den Zeiten der Pedelecs. Mit Elektroantrieb unterm Sattel kann einem heute aber auch der stärkste Gegenwind nicht mehr die Freude am maritimen Fahrradspaß verderben.
Irgendwann hat einen die Zivilisation wieder. Der Badestrand von Neuharlingersiel rückt näher, schon sind die ersten Kitesurfer der Windloop-Schule zu sehen, da auch bereits die Strandkörbe und nun wird es immer lebhafter, taucht man mit seinem Fahrrad ein ins quirlige Leben eines der beliebtesten Touristenorte der gesamten ostfriesischen Küste. Denn Neuharlingersiel ist ein kleiner Hafen wie aus dem Ostfriesland-Bilderbuch. Fischkutter säumen das pittoreske Halbrund des Hafenbeckens, eine Art Galerie für Fußgänger zieht sich leicht erhöht entlang, das Ganze umrahmt von malerischen Friesenhäusern aus Backstein. Fischer verkaufen ihren Granat direkt vom Krabbenkutter, in den Strandkörben ringsum sonnen sich die Gäste und in den Cafés gibt es Eis und sogar die seltene, nämlich originale Rumflockentorte aus Brandteig.
Die hat man sich dann aber auch (fahr)rädlich verdient.
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Und noch etwas
Die Fahrradtour lässt sich natürlich auch in Neuharlingersiel beginnen mit dem Ziel Bensersiel. Für den Rückweg kann man sich in beiden Fällen den Kick der irren Piste nochmals gönnen oder man fährt über die Küstendörfer wieder zurück zum Startpunkt.
In Bensersiel startet man direkt hinter dem Fährableger. Kurz “Am Hafen” hoch geradelt und auf der Höhe des Deiches geht es auf der linken Straßenseite durch ein kleines Gatter und dann einen Weg zum “Planetenpfad” herunter. Jetzt ist man bereits auf der Meerseite des Deiches und los geht’s !