Heute gehört der Tee zum täglichen Leben in Ostfriesland, doch das war nicht immer so. Tee war lange Zeit äußerst kostspielig und für die meisten Menschen schlicht nicht erschwinglich. Er kam von weit her aus dem Fernen Osten, aus China und Japan, und wurde über London und Amsterdam eingeführt. Es war um 1610 als erstmals Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie Tee nach Europa brachten. Zu Beginn war er nur sehr vermögenden Kreisen vorbehalten und Teil eines Zeremoniells am Hofe, in der der Adel mit dem edlen Getränk auch seine neueste Errungenschaft, kostbarstes Porzellan aus China, vorführte. Daran verbrannte er sich auch regelmäßig die Finger, denn getrunken wurde die Köstlichkeit damals noch aus zarten Tässchen ohne Henkel.
Anfänglich wurde der Tee als Medizin verabreicht, doch die Menschen kamen auf den Geschmack und der Tee als Genussmittel verbreitete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts im ganzen Land. Schließlich war er den Ostfriesen einfach nicht mehr abzugewöhnen, obwohl Friedrich der Große ihnen mit einem Erlass von 1777 das Teetrinken strikt verbot. Das hatte vor allen Dingen protektionistische Gründe. Er riet den Ostfriesen sogar dazu, wieder mehr einheimisches Bier statt des „chinesischen Drachengiftes“ zu konsumieren. Auch die Alternative, besser Zitronenmelisse oder einen Petersiliensud zu trinken, wie die Königlich Preußische Polizeidirektion in Aurich 1778 vorschlug, zündete nicht so recht. In einem Brief von 1779 heißt es:
„Der Gebrauch des Thee und Caffee ist hierzulande so allgemein und so tief verwurtzelt, dass die Natur des Menschen schon durch eine schöpferische Kraft müsste umgekehrt werden, wenn sie diesen Getränken auf einmal gute Nacht sagen sollte.“
Weder herrschaftliche Erlässe noch ein Teekrieg gegen die Landstände konnten gegen die Sucht der Ostfriesen etwas ausrichten. Nur zwei Jahre nach dem Erlass wurde das Gesetz bereits 1779 wieder von den Preußen zurückgezogen. Das Teetrinken war wieder erlaubt im Lande.
In Notzeiten wurde dann auch geschmuggelt, was das Zeug hielt. So geschehen während der Kontinentalsperre, die Napoleon zwischen 1806 und 1814 verhängte und damit den gesamten Handel, auch den mit Tee, sanktionierte. Auch im Ersten Weltkrieg war die Versorgungslage besonders schlimm und die Qualität besonders schlecht.
Im Zweiten Weltkrieg wurde den Ostfriesen mit Lebensmittelmarken auch ihr Grundnahrungsmittel zugeteilt. Nur 30 Gramm schwer war die Monatsration, was beinahe einem Entzug des Lieblingsgetränkes gleichkam. Heute ist von Mangel keine Rede mehr. Tee ist für jedermann erschwinglich, für jedermann erhältlich.
Und noch immer so beliebt wie zu Beginn: Ein Viertel des gesamten Teeverbrauchs in Deutschland wird in Ostfriesland verzeichnet. Jeder Ostfriese verbraucht pro Kopf durchschnittlich 2,5 Kilo Tee pro Jahr. Getrunken werden 300 Liter jährlich, elfmal mehr als in Deutschland sonst üblich, wo man durchschnittlich ungefähr 28 Liter konsumiert. Da kommen selbst die Iren, Engländer, Russen oder Inder – allesamt aus großen Teetrinkernationen – aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das ist Weltrekord.
Alte Kulturtechnik frisch serviert
Der Tee ist Teil der Marke „Ostfriesland“ und wird dementsprechend allerortens touristisch verwertet. An jeder Ecke finden sich Teestuben und „echt ostfriesische Teelädchen“. Es gibt sogar eine „Tee-Akademie“: Für alle, die es ganz genau wissen wollen, was es mit Kultur und Zeremonie auf sich hat, gibt das Bünting Teemuseum in seinem Stammhaus in Leer nach Anmeldung eine Lehrstunde. Bünting ist das älteste Teehandelshaus Ostfrieslands – ein Traditionsbetrieb, der sich seit 1806 in fünfter Generation mit dem Import von Tee und der Mischung ostfriesischer Teesorten beschäftigt. Ähnlich wie bei der Parfümherstellung sind hier professionelle Teetester an der Arbeit, um mit feinstem Geschmackssinn hochwertigen Ostfriesen-Tee zu komponieren.
Der ostfriesische Tee ist bekannt für seine ausgesucht gute und kräftige Mischung aus Schwarztee-Sorten. Als Basis dient immer Assam-Tee aus der zweiten Ernte der Saison, der zwischen Mitte Mai und Juli gepflückt wird und eine gehaltvolle, malzige Note hat. Diese “Second-Flush-Teeblätter” werden kombiniert mit Teesorten anderer Herkunft etwa aus Darjeeling, Ceylon oder Indonesien. Bis zu 30 unterschiedliche Sorten werden zu einer “”Echten Ostfriesischen Mischung” komponiert. Dabei ist der Ehrgeiz eines jeden Teetesters trotz saisonal unterschiedlicher Ernten jedes Jahr immer den gleichen Geschmack zu erreichen. Denn der Teetrinker an sich ist kein Freund der Veränderung. Einmal zum Lieblingstee ernannt, ist er meist ein treuer Konsument seiner Sorte. Die einen schwören auf Bünting, die anderen auf Thiele und die nächsten auf Tee von OnnO Behrends. Dazu kommen noch spezielle handgemischte Sorten wie aus der Teemanufaktur Schäfer in Großheide. Für den Sommer gibt es mittlerweile sogar coolen und echt ostfriesischen Eistee in der stylischen Flasche.
Die zentrale Anlaufstelle für alle, die mehr über die ostfriesische Teekultur erfahren wollen, ist das Teemuseum in Norden im historischen Backsteingebäude des Alten Rathauses. Hier wird alles genauestens erklärt: von den Anbaugebieten, über die Verarbeitung bis zur Herstellung der typisch ostfriesischen Mischung. Besonders sehenswert sind auch die Sonderausstellungen, die hier regelmäßig gezeigt werden, etwa zu erlesenem Porzellan aus dem Reich der Mitte mit blutrotem Dekor auf milchweißem Grund, dem Melk en Bloed. Sehr originell ist auch die Teebeutel-Packmaschine des Museums, die noch voll funktionsfähig ist und zu speziellen Terminen zeigt, was in ihr steckt.
In einer Tasse um die Welt
Porzellan und Teegerätschaften aus aller Herren Länder sind direkt nebenan im TeeMuseum, ebenfalls am Kopf des Marktplatzes von Norden, zu bestaunen. Die dort präsentierte Sammlung Oswald-von Diepholz gilt als eine der weltweit bedeutendsten zur internationalen Kulturgeschichte des Tees, seiner besonderen Bedeutung für die unterschiedlichsten Kulturen, Zeitabschnitte und Lebensbereiche. Das Museum beherbergt Exponate aus mehr als tausend Jahren Entwicklungsgeschichte rund um den Tee und seine Gerätschaften, besonders viele von der höfischen Teekultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Eine kompetentere Stelle zum Thema gibt es wohl kaum in Deutschland. Unbedingt eine Führung mitmachen – und danach herrlichsten Tee aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen genießen: Aus Japan, China oder Russland, aus Großbritannien – und ja, aus Ostfriesland.
Denn die einzige Gegend in Deutschland, die etwas von Tee versteht, ist hier. Das sagen nicht nur schwer gebeutelte Spiegel Online-Autoren. Auch der New York Times war vor einigen Jahren die spezielle Teekultur in Deutschlands Norden – In Nothern Germany, a Robust Tea Culture – eine Reportage wert. “Where the Water Is Soft, and the Tea Is Bold”, heißt es in dem sehr lesenswerten Artikel. Nicht umsonst wurde die ostfriesische Teekultur 2016 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO geadelt.
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Teetrinken für Dummies
Tee getrunken wird in Ostfriesland eigentlich immer: morgens zum Frühstück, nach dem Mittagessen, wenn Besuch da ist auf jeden Fall und abends dürfen es dann auch gerne noch Mal ein paar Tässchen sein. Beim Kochen und Einschenken des Tees gilt es festgelegte Zeremonien einzuhalten und selbstverständlich gibt es dafür auch ganz besonderes Zubehör. Da ist die spezielle Teekanne, der Treckpott. Das ist das Gefäß, in dem der Tee zieht, denn das plattdeutsche trecken bedeutet nichts anderes als ziehen. Dann gibt es noch, ganz wichtig, das kleine Teesieb, über dem jeder Tee einzeln in die Tassen gegossen wird. Auf jeden Fall braucht man noch einen kleinen Schöpflöffel für die Sahne wie auch eine Zange für den Kandiszucker.
Es gibt natürlich auch ostfriesisches Teegeschirr mit speziellem Dekor. So sind bis heute Produkte aus der Wallendorfer Porzellan-Manufaktur, einem Traditionsbetrieb aus Thüringen, sehr beliebt. Darunter besonders die ostfriesische Rose, die unter dem Handelsnamen Rot Dresmer als Hauptmotiv auf Teetassen und Kuchentellern rankt und prankt. Ein filigranes Muster aus blauen Strohblumen zieht sich dagegen über das Blau Dresmer, ein Klassiker, der bereits seit 1764 ostfriesisches Teegeschirr ziert.
In die Tasse gehört auf jeden Fall echter Kluntje, Kandiszucker, der beim Einschenken des heißen Tees laut knisterst. Über den Tee wird vorsichtig Sahne gegeben, die man vorher vom oberen Rand einer Schale mit Milch abgeschöpft hat. Für die Teesahne hat man früher gerne Schafsmilch genommen, da diese besonders fett ist und sich nach einigen Tagen oben eine besonders reichhaltige Schicht Rahm, Rohm, von der Milch absetzte.
Heute geht’s auch einfacher, man muss sich nicht mehr frisch gemolkene Schafsmilch in den Kühlschrank stellen, Teesahne kann man mittlerweile in jedem Supermarkt Ostfrieslands fertig kaufen. Die Sahne bildet auf der Oberfläche des Tees weiße Wulkjes, Sahnewolken. Auf keinen Fall (nie!) darf der Tee umgerührt werden. Das ist so Brauch, aber hat auch einen guten Grund: Der im Verhältnis zur Tasse und Teemenge recht große Kandisklumpen am Boden würde sich zu schnell auflösen, das Getränk ein einziges süßes Gebräu. Deswegen: lieber nicht rühren und auch nicht bei jeder Tasse neuen Kandis nachlegen.
Richtig zelebriert ergeben der süße Kandis unten, der herbe heiße Tee in der Mitte und die cremige Sahne oben ein herrliches Trio, eine äußerst geschmackvolle Therapie zur Entschleunigung. Denn das Tee kochen und trinken braucht seine Zeit. Die Teekultur ist eindeutig Ostfrieslands Beitrag zur „Slow Food“-Bewegung.
Auch noch wichtig zu wissen: „Drei ist Ostfriesenrecht.“ Oder besser gesagt: „Ostfriesenpflicht“. Die welt.de titelte mal ganz treffend: Die Teetied in Ostfriesland dauert drei Tassen. Mindestens. Aber keine Sorge: Die Tassen sind traditionell sehr klein – schließlich war das Gebräu zu früheren Zeiten der pure Luxus – und werden auch höchstens zu zwei Dritteln voll geschenkt. Wem es zu viel wird, der legt einfach seinen Löffel in die Tasse. Wer das vergisst, dem wird immer wieder nachgeschenkt…
Das ist übrigens der einzige Moment während der gesamten Zeremonie, in dem der Teelöffel überhaupt gebraucht wird. Auch wenn die Tassen klein sind, über ein Ostfriesenleben hinweg kommen da einige Teeliter zusammen. Gesund ist das auf Dauer nicht unbedingt. Fragen Sie Ostfrieslands Zahnärzte!
Merkwürdigerweise schmeckt Urlaubern der Ostfriesentee Zuhause meistens anders als noch in Ostfriesland. Der Tee ist derselbe, Kandis und Sahne auch – aber irgend etwas stimmt nicht. Dann ist es meistens das Wasser, das den Unterschied macht. Wer also den originalen Geschmack von Ostfriesen-Tee auch andernorts auf der Zunge spüren will, der sollte sich am besten gleich einen Kanister echt „Ostfriesisch-Wasser“ mitnehmen.
Ein Gedanke zu „Teetied: Süchtig nach dem dunklen Drachengift aus China“