Die Gastfreundschaft der Ostfriesen rühmte schon der Amsterdamer Kaufmannssohn Willem de Clerq, der 1814 durch Ostfriesland und Bremen reiste und regelmäßig in sein Tagebuch schrieb. Diesem glücklichen Umstand verdanken wir viele lebhafte Augenzeugenberichte aus jener Zeit. Rund 30.000 Seiten Tagebuch hat er den Niederländern hinterlassen, darunter auch sehr aufschlussreiche Passagen vom ostfriesischen Teil seiner Reise:
„Da ich nun Ostfriesland verlasse, will ich das nicht tun, ohne die freigiebige und gastfreundliche Art seiner Bewohner zu huldigen. Diese Tugend ist bei den Ostfriesen sehr ausgeprägt. Wenn man zu einem Ostfriesen kommt, empfängt er einen mit der größten Gastfreundschaft, geleitet dich ins Haus und bietet dir alles an ohne nach deinem Namen oder Ziel zu fragen.“
Er stellt aber auch weiterhin fest:
„Darüber hinaus wird in diesem Land kräftig an Bacchus geopfert und vom Morgen bis zum Abend findet man immer Zeit, um Wein oder Schnaps trinken zu müssen.“
Eine regelrechte „Branntweinpest“ im Land dokumentieren andere Quellen für das 19. Jahrhundert. Der Apotheker Heinrich Buurmann aus Leer kann in seinem Buch “Der Schnapsteufel”, das 2018 erschienen ist, von einer düsteren Zeit berichten, in der eine ganze Region dem Suff erlag. Seit Menschengedenken trinkt man schon Branntwein in Ostfriesland, doch vor 170 Jahren nahm der Konsum von Genever und Doornkaat wohl bedenkliche Ausmaße an. Stark alkoholisiert verunglückten laut Buurmann Ostfriesen reihenweise im Vollrausch, wie tragische Unglücksfälle etwa aus Leer oder Esens bezeugen. Eine regelrechte Alkohol-Epidemie breitete sich landesweit aus. Auch ein preußischer Gesandter konnte die Säufer zunächst nicht mäßigen. Ab 1866 wurde der Alkoholausschank sogar konzessionsfrei.
Doch der freie Verkauf und der ausgesprochen lebhafte Konsum von Schnaps und Bier erlebten solche Auswüchse, dass die ostfriesischen Gemeinden schließlich von der preußischen Verwaltung aufgefordert wurden, in Säufertabellen ihre notorischen Trinker zu melden. Weit verbreitet waren damals auch so genannte Mäßigkeitsvereine, die versuchten, den allgemeinen Alkoholmissbrauch einzudämmen.
Die Zeiten, als Ostfriesland dem Schnaps verfiel, sind lange vorbei. Auch wenn der ein oder andere Korn auch heute noch gerne durch durstige Kehlen fließt. Von Mann wie Frau gleichermaßen gerne getrunken wird bis in unsere Tage auch die Bohntjesopp – nicht nur zur Puppvisiet, wenn Familie, Freunde und Nachbarn gerne zusammen kommen, um ein Neugeborenes zu begrüßen. Die hochprozentige “Suppe” aus Branntwein und Rosinen ist mit aufgelöstem Kandis gesüßt. Das macht sie zwar zu einem äußerst süffigen Getränk, aber auch zu einem mit nachhaltigen Wirkungen.
Korn darf Hochprozentiges übrigens erst dann heißen, wenn es einen Alkoholgehalt von mindestens 32 Volumenprozent hat. Ab 37,5 Prozent ist es ein Kornbrand und ab 38 Prozent ein Doppelkorn. Er wird aus Getreide – Roggen, Weizen und Gerste, seltener mit Hafer und Buchweizen- hergestellt.
Einer der bekanntesten Kornbrände der noch jungen Bundesrepublik war Doornkaat. Die Spirituosenmarke aus Norden wurde heiß geliebt und kalt getrunken, so ein Werbespruch aus den späten sechziger Jahren. Mit Hape Kerkeling und seiner Figur Horst Schlämmer, der sich gerne einen Schluck aus der grünen Vierkantflasche genehmigte, erreichte der dreifach gebrannte Klare nochmals ein kleines Werbe-Revival. Die Produktion in Norden wurde 1997 jedoch endgültig eingestellt und der Firma Berentzen im Emsland übergeben. Seit einigen Jahrzehnten ist kein namhafter Schnaps- oder Branntweinhersteller mehr in Ostfriesland zu Hause.
Eine Ausnahme gibt es jedoch: Apotheker Bödeker’s Magenbitter aus Emden, der bis heute nach einer mehr als zweihundert Jahre alten Geheimrezeptur angesetzt wird. Noch selten war Hochprozentiges aus ostfriesischer Gärung so gesund wie das goldglänzende Getränk aus der traditionsreichen Löwenapotheke. Auch die berühmten Bierbrauer in Jever sind mit der Zeit gegangen: Neben dem klassischen Pilsner gibt es mittlerweile alkoholfreie oder aromatisierte Sorten, wird der Gesundheitsaspekt heute gerne besonders herausgestellt. Daneben machen kleine Privatbauerein wieder von sich reden, das Landbier aus Bagband oder das Küstenbier aus Werdum – sie alle führen in modernen, zeitgemäßen Varianten eine uralte ostfriesische Leidenschaft fort.
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