Die Bilder der reich geschmückten Ostfriesinnen des Mittelalters sind nicht nur wunderschön anzusehen, sondern auch wissenschaftlich sehr wertvoll. Sie gehören zu den ältesten Aufzeichnungen von Trachten in Deutschland. Als sie 1893 erstmals im Emder Jahrbuch veröffentlicht wurden, war dieses eine Sensation für alle Volkskundler. Bis dahin schlummerten die Schönheiten über Jahrhunderte im Lütetsburger Hausbuch, dem Familienbuch der Schlossherren-Familie Inn- und Knyphausen. Denn der Auftraggeber der farbigen Blätter war vor langer Zeit ihr Vorfahr: Unico Manninga.
Wer war dieser Mann, der auf die Idee kam, die alten friesischen Trachten für die Nachwelt festzuhalten? Denn als sie gezeichnet wurden, waren sie schon lange aus der Mode. So kleidete sich zur Zeit Unico Manningas kaum eine Frau mehr.
Unico Manninga lebte von 1529 bis 1588. Er war das jüngste von 14 Kindern und erbte als zuletzt geborener Sohn mehr die großen Namen vieler Häuptlingsvorfahren und gute verwandschaftliche Beziehungen zu seinem Großonkel Ulrich Cirksena, dem ersten Grafen von Ostfriesland, als viele Besitztümer. Das Geld brachte seine erste Frau in die Ehe: Denn Hyma von Oldersum war die Erbin der Herrlichkeit Gödens. Dort lebten sie auch gemeinsam bis zu ihrem frühen Tod 1557, nur vier Jahre nach der Hochzeit. Die Ehe blieb kinderlos, dafür aber ein Testament übrig, dass ihn zum Erben des kostbaren Besitzes machte. Den überließ er seinem Schwager gegen eine Entschädigungszahlung von 11 000 Gulden – und mit diesem Geld kaufte er seinem älteren Bruder Hayo Ende April 1561 die Lütetsburg bei Norden ab.
So gelangte auch das Lütetsburger Hausbuch in seine Hände. Dabei handelt es sich um eine Art Familienchronik, in der wichtige Ereignisse für die Nachwelt festgehalten und notiert wurden. Ganz vorne, auf Seite drei des Tagebuchs, steht die Widmung, die ihm sein Vetter Hoyko aus Pewsum zur Übergabe hinein geschrieben hat.
Das Steinhaus der Lütetsburg war zuvor durch einfallende Heere gleich dreimal verwüstet worden: Waren es 1514 die Sachsen und 1531 Balthasar von Esens aus dem Harlingerland, so fielen 1534 die Geldernschen Truppen ein. Die Lütetsburg war in einem schrecklichen Zustand als Unico den Besitz übernahm. Er heiratete 1562 ein zweites Mal. Adelheid von Brakel gebar ihm eine Tochter, die er nach dem Namen seiner ersten Frau Hyma benannte. Sie blieb sein einziges Kind. Dafür schenkte sie ihm später drei Enkelsöhne, die aus der 1581 geschlossenen Ehe mit Wilhelm von Inn- und Knyphausen hervorgingen, mit dem auch die Ära dieses Adelsgeschlechts in der Lütetsburg begann und sich bis heute fortsetzt.
Unico Manninga gilt als einer der Schlüsselfiguren der ostfriesischen Politik jener Zeit. Seine Studienjahre verbrachte der junge Mann in Wittenberg und im fernen Padua in Italien, in denen er prägende Kontakte zu neuen religiösen Vordenkern knüpfte. Nach erfolgreicher Mission in England, wo es ihm gelang den englischen Tuchhandel nach Emden zu holen, wurde er 1565 Drost von Emden. Obwohl in Diensten des lutherischen Grafen von Ostfriesland, war er den neu aufkommenden Ideen seiner Zeit zugewandt, konvertierte selbst 1559 zum Calvinismus. Er gewährte Glaubensflüchtlingen in großer Zahl auch privat in seiner Lütetsburg Zuflucht. Er half Niederländern, die während des Unabhängkeitskriegs von Spanien flüchteten. Und er erlaubte in dem von ihm errichteten neuen Rathaus am Delft in Emden den Druck religiöser Kampf- und Erbauungsschriften in niederländischer Sprache, was ausdrücklich verboten war.
Zu den Flüchtlingen in der Lütetsburg zählten auch zahlreiche Künstler, die aus den Niederlanden nach Emden geflohen waren. Der Historiker Johannes C. Stracke, Verfasser des wissenschaftlichen Standardwerks zu Tracht und Schmuck Altfrieslands, vermutet, dass die Bilder aus der Feder von Hinrich oder Hendrick Maler aus Groningen stammen, der 1570 in die Dienste von Unico Manninga trat. Das würde zeitlich passen. Denn 1570 trat auch Unico Manninga wegen zunehmender Unstimmigkeiten mit dem Grafen von Ostfriesland von seinem Amt als Drost von Emden zurück. Fortan konnte er sich mehr seinen geschichtlichen Aufzeichnungen und der Tradition widmen. Die wunderbaren Zeichnungen der überaus reich geschmückten Friesinnen in ihrer Tracht müssen in den siebziger Jahren angefertigt worden sein, darin sind sich die Experten einig.
In diesem Jahrzehnt fegten aber auch drei gewaltige Sturmfluten über Ostfriesland: 1570 zerstörte die große Allerheiligenflut fünfzig Häuser in der Herrschaft Lütetsburg und tötete viele Menschen. 1573 und 1587 schlug die Nordsee nochmals fürchterlich zu.
Vielleicht waren es die unruhigen neuen Zeiten, die Unico Manninga dazu bewogen, die alten für immer festzuhalten. Auf Seite 170 des Lütetsburger Hausbuchs stehen sechs handschriftliche Zeilen, die Unico Manninga der einmaligen Bildersammlung als Geleitwort zur Seite gestellt hat und die in diese Richtung weisen. Dewile ick spore…: Weil er spürt, dass alles vergeht, will er es festhalten:

Die Abbildungen der farbenfrohen alten Trachten klingen wie ein Abschied von einer Welt, die schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens im Verschwinden begriffen war. Die goldene Pracht der Friesinnen steht symbolisch für das Goldene Zeitalter Ostfrieslands im Mittelalter, das im ausgehenden 16. Jahrhundert nur noch schwach am Horizont schimmerte. Mit Diademen, Miedern und Haarschmuck aus schwerem Gold gehen die ostfriesischen Frauen bald nicht mehr aus. Nichts strahlt mehr in leuchtenden Farben, nichts glänzt mehr. Ab jetzt wird es alles dunkel, nicht nur die Kleidung der Frauen.
***
Der digitale Hut: Ostfriesland Reloaded gefällt mir!
Ostfriesland Reloaded ist nicht kommerziell. Durch den Verzicht auf Werbung können Sie sich ganz auf den Inhalt konzentrieren: auf spannende Themen, unterhaltsame Texte und faszinierende Bilder. Gefällt Ihnen Ostfriesland Reloaded? Dann können Sie freiwillig dafür 1 Euro spenden – oder auch mehr. Die Höhe können Sie direkt über die Pfeile steuern. Vielen Dank für Ihre Wertschätzung.
1,00 €
So ein toller Beitrag, vielen Dank. Wusste schon ein bisschen über die Lütestburg. Die Familie Manninga hatte ihre ursprüngliche Burg in Westeel, das bei einer großen Sturmflut völlig untergegangen ist. Dann hat Lütet Manninga die Lütestburg gebaut. Genaue Zahlen hab ich nicht im Kopf.
Das freut die Autorin! Und vielen Dank auch für die Spende. Es werden immer mehr, die bereit sind für Qualität auch zu zahlen. Selbst wenn diese aus dem Netz kommt…
Hier noch ein inhaltlicher Hinweis: Der gelobte Beitrag ist einer von vieren, die sich im Januar 2019 um das Thema Gold und Ostfriesland drehten, über die Archivsuche leicht zu finden. Hier der Link zu dem Text, der noch genauer auf die Bilder des Lütetsburger Hausbuchs eingeht: https://ostfrieslandreloaded.com/2019/01/01/einfach-koeniglich-der-goldschmuck-der-ostfriesinnen/