“So schön wie das Mündungsdelta des Orinoco”, das hat mal jemand über die amphibische Landschaft zwischen Nordseeküste und Ostfriesischen Inseln geschrieben. 10.000 Quadratkilometer ist es groß, dieses weltweit einzigartige Gebilde, das sich entlang der niederländischen und deutschen Küste bis nach Dänemark zieht. 2009 ist es von der UNESCO zum Weltnaturerbe der Menschheit ernannt worden: das Wattenmeer. Das Watt ist jener Teil des Wattenmeeres, der im Wechsel der Gezeiten regelmäßig überflutet wird und wieder trockenfällt. Das Watt nimmt zwei Drittel des gesamten Wattenmeeres ein.
Der Name „Watt“ stammt aus dem altfriesischen Wort „wad“, was so viel wie „seicht, untief“ bedeutet. Von weitem schillert und glänzt das Watt in herrlichsten Silbergrautönen, Himmel und Wolken spiegeln sich auf einer schier unendlichen Fläche. Das Land, das wie durch ein Wunder zwischen ostfriesischen Inseln und dem Festland immer wieder neu entsteht, wirkt auf den ersten Blick wie eine einzige große „Schlickwüste“. Doch die Wüste lebt! In einem Quadratmeter Watt können sich bis zu hunderttausend Schlickkrebse, fünfzigtausend Wattschnecken, dreihundert Herzmuscheln oder hundert Wattwürmer befinden.

Wohnen in der Röhre: Wattwürmer und Schlickkrebse
Insbesondere den Wattwürmern begegnet man sozusagen auf Schritt und Tritt: Das Watt ist förmlich übersät von kleinen Haufen mit Sandkringeln. Jeder Haufen gehört zu einem bis zu 40 Zentimeter langen, rotbraunen Wattwurm. Der befindet sich aber nicht in dem Sandkringel, sondern in der Mitte einer U-förmigen Röhre etwa 25 Zentimeter unter der Wattoberfläche. Das eine Ende der Röhre funktioniert als Trichter, in den der Wurm bei Ebbe unablässig Sand saugt und Nahrung herausfiltert. Den überflüssigen Sand quetscht er dann aus dem anderen Ende der Röhre wieder als kleine Kotschnur an die Oberfläche. So gräbt er zusammen mit seinen Artgenossen unablässig die obersten 20 Zentimeter des Meeresbodens um.
Nicht nur der Wattwurm hat sich tief in den Boden eingegraben, um den widrigen Bedingungen des Lebensraumes zu entgehen. Auch die Schlickkrebse haben sich kleine Wohnröhren gebaut. Wenn tausende von ihnen gleichzeitig die Fühler spreizen, dann hört man das Wattknistern. Eine andere Wurmart, der farbig schillernde Seeringelwurm, baut dagegen verzweigte Gangsystem mit integrierten Fangnetzen für die Nahrung.
Der Bäumchenröhrenwurm verfolgt eine ganz andere Strategie. Er baut sich ganz kunstvolle Wohnungen aus Sandkörnern und Muschelstückchen. Der obere Teil dieses Kunstwerks, durch den der Wurm seine Tentakel zum Nahrungsfang ins Wasser steckt, guckt wie eine Baumkrone aus dem Wattboden. Zu Tausenden ist die Wattfläche mit diesen kleinen, zotteligen Röhrchen übersät.

Muscheln: Die einen filtern Wasser, die anderen saugen Mikroalgen vom Boden
Viele Muschelarten haben ebenfalls ein unterirdisches Heim. Am dichtesten unter der Oberfläche siedelt die Herzmuschel, die sich mit ihrem muskulösen Fuß ins Watt eingräbt. Sie ist zwar nur drei Zentimeter groß, filtert aber in der Stunde 2,5 Liter Meerwasser. Zum Atmen und Fressen schiebt sie bei Flut zwei Versorgungsschläuche an die Oberfläche. Ganze 30 Zentimeter unter dem Grund können Sandklaffmuscheln leben. Möglich wird das durch einen dicken Schlauch mit Ein- und Ausströmöffnungen für das Wasser. Beide Muschelarten gehören zu den sogenannten Filtrierern. Bis zu drei Litern Nordseewasser können Muscheln in der Stunde schaffen.
Auch die bekannten Miesmuscheln sind Filtrierer. Sie graben sich jedoch nicht tief im Wattboden ein, sondern siedeln in großen Kolonien auf der Wattoberfläche. Damit sie nicht abtreiben, heften sie sich mit festen Eiweißfäden, den Byssusfäden, aneinander und an Steine oder Pfähle fest und leisten so der starken Strömung der Gezeiten gemeinsam Widerstand. Miesmuscheln sind für das Wattenmeer von existenzieller Bedeutung: Sie sammeln große Feststoffmengen aus dem Wasser und festigen dadurch das Sediment. Miesmuscheln ernähren sich vom Phytoplankton, das viel Licht braucht und in trübem, vom Sturm aufgepeitschtem Wasser nicht gedeiht. Heute werden die meisten Miesmuschelbänke als Kultur im Wattenmeer gehalten.
Zu einer ganz anderen Muschelart gehören dagegen Platt-, Tell- und Pfeffermuschel. Auch sie graben sich tief in das Watt ein, ernähren sich aber nicht durch das Filtern von Wasser, sondern durch eine ganz anders geartete Technik: Sie besitzen kräftige Saugrohre, die so genannten Syphone. Mit denen saugen sie förmlich den Meeresboden über ihnen ab. Dieses Verfahren nennt man im Fachjargon Pipettieren.

Im seichten Wattenmeer ist das Wasser an vielen Stellen so flach, dass die warmen Sonnenstrahlen bis zum Boden reichen. So können mikroskopisch kleine Pflanzen am Boden des Wattenmeeres gedeien – die Mikroalgen. Sie sind nicht nur die absolute Lieblingsspeise der saugenden Muscheln, sondern auch von Wattschnecken, die mit ihren Raspelzungen die Algenfelder abgrasen. Zu Hunderttausenden drängen sich die kleinen Wattschnecken, die etwa einen halben Zentimeter groß sind, bei Ebbe dicht an dicht am Wattboden und kleben diesen mit ihren Ausscheidungen regelrecht zusammen. Bei Flut hängen sie sich mit ihrem Schleim an die Wasseroberfläche und lassen sich kilometerweit treiben. Ohne die Mikroalgen gäbe es das Schlickwatt nicht. Sie verkitten die Sedimente mit ihrem Schleim und bilden dadurch eine Art Weide für die nächsten Glieder im Nahrungsnetz des Wattenmeers.
In der Natur der Sache: fressen und gefressen werden
Aufgrund der Mikroalgen und des durch Ebbe und Flut immer wieder angereicherten nährstoffreichen Wassers gedeihen Muscheln, Würmer, Krebstierchen und Schnecken im Wattenmeer ausgesprochen gut. Jedenfalls so lange bis ihre Fressfeinde kommen! Ob Fisch, Vogel oder Mensch, sie alle bedienen sich am reich gedeckten Tisch der Nordsee. Während der Mensch sich auf die Zucht und die Ernte von Miesmuscheln aus dem Wattenmeer spezialisiert hat, hat die Vogelwelt ausgeklügelte Fangtechniken und Schnabelformen entwickelt, um auch noch an tiefst verborgene Köstlichkeiten zu gelangen. Kein Wunder, dass die Zugvögel auf den Routen entlang des östlichen Atlantiks das Wattenmeer zu ihrem bevorzugten Stopp und Rastplatz im Frühjahr und Herbst auserkoren haben.

Auch Seesternen gefällt es sehr im Wattenmeer, ist doch auch ihr Tisch reich gedeckt. Die auffälligen Tiere mit ihrer kissenartigen Oberfläche haben zwar keine Augen, können aber dennoch dunkel und hell unterscheiden. Unter den spitzauslaufenden Armen, fünf an der Zahl, haben sie ganz viele Füßchen, mit denen sie sich über Grund fortbewegen. Doch das putzige Aussehen täuscht. Sie sind nämlich recht fiese Räuber, die Weichtiere wie Muscheln und Schnecken auf dem Speisezettel haben. Der Gemeine Seestern hat dabei auch ein ganz gemeines Verfahren entwickelt: Zunächst schiebt er sich die Muschel unter seinen Mund, der sich an der Unterseite in der Körpermitte befindet. Dann saugt er sich mit seinen Saugfüßen an der Muschel fest und stemmt nach und nach mit stundenlangem Druck ganz beharrlich die Muschel auf. In dem Moment, in dem die Muschel nachgibt, stülpt der Seestern seinen Magen heraus und lutscht sein Opfer dann regelrecht aus. Guten Appetit!

Und noch etwas
Nicht nur zu den Zugvogeltagen im Herbst, sondern das ganze Jahr über kann man sich über die einmalige Vogelwelt am ostfriesischen Wattenmeer informieren: So etwa auf dem Vogelpfad Ostermarsch. Dabei handelt es sich um einen 7,5 Kilometer langen Lehrpfad, der an der früheren Dorfschule am Otto-Leege-Platz in Ostermarsch beginnt und zur Beobachtungshütte an den Osthafen von Norddeich führt. Neun Stationen informieren über das Lebenswerk des berühmten Vogelforschers Otto Leege und bringen einem ornithologisch kostbare Lebensräume zusammen mit vielen Vogelportraits näher:
- Dorfplatz Ostermarsch: Otto Leege
- Ostermarsch, Mandepolderweg: Küstenmarsch als Vogellebensraum
- Mandepolder: Zugleistungen von Vögeln
- Deichquerung: Hochwasserrast von Küstenvögeln
- Dieksweg: Wann sind die Vögel im Wattenmeer?
- Roter Pfahl: Watt als Nahrungsquelle
- Norder Watt: Navigatorische Leistungen auf dem Vogelzug
- Granatdarre: Bedeutung von Salzwiesen
- Osthafen Norddeich: Ostatlantischer Vogelzug
Vogelportraits
- Austernfischer
- Blaukehlchen
- Brandgans
- Großer Brachvogel
- Lachmöwe
- Ringelgans
- Sandregenpfeifer
- Schilfrohrsänger
- Silbermöwe
- Spatzen und Schwalben
- Steinwälzer
- Wiesenpieper
Mehr Informationen zum Vogelpfad Ostermarsch findet sich hier auf der Website des Niedersächsischen Nationalparks Wattenmeer.
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