Fünfundzwanzig Kilo müssen sie mindestens schwer sein, um wieder selbstständig in ihrem Revier, der Nordsee, zu leben und auf Nahrungssuche zu gehen. Das ist das Auswilderungsgewicht für alle Seehunde, die während des Sommers in der Seehundstation in Norddeich Kraft getankt haben. Mit viel fetter Milch und Fisch aufgezogen, geht es nun in die Freiheit, startet die schönste Seehund-Saison des Jahres. Die ersten Jungtiere sind schon Anfang August wieder in die freie Wildbahn entlassen worden, die anderen werden ihnen nach und nach in den geflochtenen Weidenkorben folgen. Nur Freude und kein bisschen Wehmut sieht man beim Abschied, vor allen Dingen bei den Pflegern, die sich im Schnitt 63 Tage lang um die hungrigen Jungtiere mit dem Silberfell gekümmert haben.
Genau 160 Heuler, verwaiste Seehundjungtiere, wurden in diesem Sommer in Ostfriesland eingeliefert und aufgezogen. Das sind in etwa gleich viele wie 2017, in dem man 163 der kleinen Säuger in den Becken der Station betreute. Dabei war das Wetter in diesem Jahr ausgesprochen gut für die Muttertiere, um ihren Nachwuchs draußen auf den Sandbänken aufzuziehen. Eigentlich hätte die Zahl der Zöglinge naturbedingt niedriger sein müssen. So vermuten die Experten, dass Störungen durch Menschen für die doch verhältnismäßig hohe Zahl der Trennungen von Mutter- und Jungtier verantwortlich sind. Denn nicht nur für die Seehunde war 2018 ein gutes Jahr, sondern auch für die vielen Nordsee-Touristen im Jahrhundertsommer. Peter Lienau, Leiter der Norddeicher Seehundstation, erläutert: „Das dauerhaft gute Wetter und lange Wochenenden zu Beginn des Sommers, haben zahlreiche Erholungssuchende an die Strände und ins Wattenmeer – somit in die Kinderstube der Seehunde – gelockt. Durch wiederholte Störungen können die Jungtiere nicht ausreichend gesäugt werden und genügend Kraft- und Fettreserven ansammeln. Auch durch Flucht ins Wasser und Schwimmen verbrauchen sie zusätzliche Energie.”
Ob durch Naturgewalten oder getrennt durch den Menschen: Wann immer ein Heuler einsam nach seiner Mutter ruft und gefunden wird, dann ist man in Norddeich zur Stelle und kontrolliert erst jeden Fund individuell. Denn nur wenn der Kontakt zur Mutter definitiv ausgeschlossen ist, rettet man den Säugling vor dem sicheren Hungertod. Das tut man mit großem Erfolg. Die ausgesprochen gute Entwicklung der Seehundpopulationen in der Nordsee ist zum Teil auch auf die jahrzehntelange Aufzucht verwaister Seehundbabys zurückzuführen.
Was einst als Rettungsmaßnahme zur Bestandssicherung gedacht war, ist heute wichtiger Individualtierschutz. Die Seehundstation wird nur in den Bereichen aktiv, wo der Einfluss des Menschen zu groß ist: an den Badestränden der Inseln und am Festlandsdeich. Die Norddeicher Station hat sich über die Zeit zu einem wichtigen Umweltbildungszentrum und einer der großen Tourismusattraktionen Ostfrieslands entwickelt mit dem jährlichen Höhepunkt – der Auswilderung der aufgezogenen Jungtiere.
Seit dem 20. Juni genau ist in der Seehundstation von Norddeich nun auch eine nagelneue Futterküche für die Tiere in Betrieb, nachdem die alte durch einen Wasserrohrbruch zu Schaden gekommen war. 80.000 Euro wurden investiert für eine Optimierung von Organisation, Hygiene und Infrastruktur. Es hat sich gelohnt: für die Seehunde, die Pfleger und auch für die Besucher, die jetzt einen guten Einblick in alle Abläufe rund um die Fütterungen erhalten. Zirka 16 Tonnen Hering gehen im Jahr durch die hungrigen Mäuler. Dazu gibt es noch Lachsemulsion, beides produziert von niedersächsischen Betrieben.
Im Niedersächsischen Wattenmeer lebten um 1900 herum geschätzt zirka 10.000 bis 14.000 Seehunde. Aufgrund der Vorgaben aus dem Bundesjagdgesetz wurden 1958 jährliche Zählungen eingeführt. Zunächst zählten die Forscher vom Boot aus. Die Ergebnisse gaben Anlass zur Sorge. 1971 wurde daher die Seehund- und Forschungsstation in Norddeich ins Leben gerufen. 1973 wurde die Seehundjagd eingestellt. Doch auch in den Folgejahren stieg die Zahl der Seehunde nicht an. Auch die seit 1975 erstmalig durchgeführten Flugzählungen bestätigten die früheren Erkenntnisse: Es lebten nur noch 1250 Seehunde an der Niedersächsischen Küste. Erst ab Beginn der 1980er Jahre erholte sich der Bestand in Niedersachsen kontinuierlich, bis er 1988 und 2002 durch zwei Infektionen mit dem Staupevirus nochmals massiv von 2.508 und 6.481, jedes Mal fast um die Hälfte, reduziert wurde. Doch seit der letzten großen Staupeepidemie hat sich die Gesamtpopulation von 3.472 nahezu verdreifacht. In 2017 zählte man wieder fast wie ehedem 10.000 Tiere: Seit Anfang der systematischen Messung war es die Rekordzahl von genau 9.946 Seehunden, davon 2.112 Jungtiere. (Quelle: Seehundstation Nationalpark-Haus Norden-Norddeich)
In 2018 haben sich die Seehundbestände auf weiterhin hohem Niveau stabilisiert, wie das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) am 24. August mitteilte. Das Amt ist zuständig für die Bilanz der Zählflüge im Wattenmeer zwischen Ems und Elbe. Bei insgesamt 15 Rundflügen wurden von ehrenamtlichen Jägern seit dem 7. Juni genau 9.918 Seehunde gezählt. Damit ist die Seehundpopulation im Niedersächsischen Wattenmeer fast genauso hoch wie der Spitzenwert vom letzten Jahr. Laut dem LAVES ist die beste Zeit für die Zählung bei Niedrigwasser von Juni bis August. Denn: “In den Sommermonaten kommen die Seehunde vermehrt an Land, um ihre Jungen aufzuziehen, um sich zu sonnen und um ihr Fell zu wechseln. Die Seehunde ruhen auf den Sandbänken und können so vom Flugzeug aus gezählt werden. Und das Wetter war in diesem Jahr für beinahe alle Zählflüge optimal: blauer Himmel, Sonne und wenig stürmische Winde. Seehunde mögen es sonnig und ruhig und kommen dann an Land. Auf Wetteränderungen und auf Störungen durch den Menschen reagieren die Tiere sensibel und ziehen sich ins offene Meer zurück.”

Fünf Termine sind für das genaue Monitoring der Seehundbestände aus der Luft vorgesehen, das das LAVES seit 2005 für Niedersachsen organisiert und koordiniert. Dafür wird das niedersächsische Küstengebiet in drei Abschnitte eingeteilt, so dass zu jedem der Termine drei Propellerflugzeuge gleichzeitig abheben können von Emden, Mariensiel und Nordholz. Eine Analyse der Daten von 2018 für den Seehundbestand im gesamten UNESCO Weltnaturerbe Wattenmeer, das die Niederlande, Deutschland und Dänemark umspannt, wird von der trilateralen Seehundexpertengruppe, der Trilateral Seal Expert Group (TSEG), für den Herbst erwartet.
Denn das Revier der Seehunde ist die gesamte Nordseeküste, sie bewegen sich frei von Ländergrenzen durch das Wasser. Daher zählt man auch seit 1974 in Deutschland, Dänemark und die Niederlanden gleichzeitig die Bestände der sehr mobilen Säuger. 2017 verzeichneten die Forscher neue Rekorde bei den Seehundwelpen. Insgesamt 9.200 Jungtiere wurde im Beobachtungsgebiet gezählt, so viele wie noch nie. Noch ein Jahr zuvor waren es mit 7.566 Welpen ein Viertel weniger. Die Gesamtbestände aller Seehunde blieben jedoch auf gleichem Niveau bei rund 25.000 Tieren. Ein Zeichen dafür, dass die erwachsenen Seehunde für die Nahrungssuche mittlerweile immer weitere Wege zurücklegen, die sie aus dem Wattenmeergebiet herausführen. Die natürliche Tragfähigkeit des Systems könne erreicht sein, so interpretierte das Gemeinsame Wattenmeersekretariat der drei Länder, das seit 1991 ein gemeinsames Abkommen zur Erhaltung der Seehunde im Wattenmeer umsetzt, das Ergebnis von 2017. Man darf also gespannt sein, wie die Analyse für 2018 ausfällt.
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