Katastrophe vor Spiekeroog: Keine Rettung für die “Johanne”

Diese alte Schiffsglocke hat schon viel Tote betrauert. Einst hing sie auf der “Johanne”, dem Auswandererschiff, das vor über 150 Jahren tragisch vor der Insel Spiekeroog strandete. Von dort wird sie jedes Jahr nach Carolinensiel überführt und steht im Mittelpunkt einer Schiffsandacht, bei der an alle Menschen erinnert wird, die auf den Meeren dieser Welt ihr Leben gelassen haben. Für jeden Toten ein Glockenschlag.

2016 waren es 86. Das weiß Brigitte Bunde vom Inselmuseum auf Spiekeroog ganz genau. Denn sie ist es, die seit vielen Jahren diese Zeremonie gemeinsam mit ihrem Mann Dieter Mader feierlich durchführt und jeden Namen laut nennt, während er die schwere Glocke schlägt. Bald, am Samstag, den 2. Juni, ist es wieder soweit. Die amtliche Liste mit den Namen aller Schiffstoten des vergangenen Jahres bekommen sie immer von den Seenotrettern aus Bremen. Alphabetisch sortiert nach Herkunftsland der Schiffe sind dort die Unglücklichen aufgeführt. Deutschland ist darunter nicht oft zu finden, was einerseits für die Sicherheit deutscher Schiffe spricht, aber auch dafür, dass nur noch wenige Seeleute unter deutscher Flagge fahren.

Auch 2017 gab es viel zu viele Tote auf den Weltmeeren. Doch die Liste mit den Namen ist der freundlichen Empfangsdame Bunde hinter ihren Tresen im Inselmuseum von Spiekeroog gerutscht, das sie ebenfalls mit ihrem Mann, auch Vorsitzender des Museumsvereins, ehrenamtlich betreut. Hier im Eingangsbereich des ehemaligen Kapitänshauses im idyllischen Inselkern hängt sie das ganze Jahr, als Blickfang und gut sichtbar für jeden Besucher, den es in das liebevoll betreute Heimatmuseum zieht: die sturmerprobte Schiffsglocke der “Johanne”. Sie ist die letzte Zeugin eines der tragischsten Schiffsunglücke, das im 19. Jahrhundert die Nordseeküste ereilte.

Ein Spielball in der Brandung: Die Insulaner zum Zuschauen verdammt

Es passierte Anfang November 1854 vor Spiekeroog. Ein Auswandererschiff auf dem Weg von Bremerhaven nach Baltimore in den USA geriet noch vor Helgoland in einen schweren Sturm und vom Kurs abgetrieben in die gefährliche Brandungzone der Ostfriesischen Inseln. Heftige Böen trieben die “Johanne”, einen gewaltigen Dreimast-Segler mit 216 Menschen an Bord, am frühen Montagmorgen, es war der 6. November, schließlich auf den festen Strand der Insel Spiekeroog zu. Einmal auf Grund gelaufen, gab es keine Rettung mehr. Denn es war drei Stunden vor Hochwasser, die Insulaner konnten nicht mehr helfen und die Menschen das Schiff nicht mehr verlassen. Die Gestrandeten mussten noch über sechs Stunden auf den engen Decks aushalten, dem peitschenden Sturm und dem furchtbaren Aufprall der Brandungswellen ausgesetzt.

Und diese taten ihr gnadenloses Werk. Sie schleuderten das Schiff hin und her wie einen Spielball, rissen es mit einem heftigen Brecher auf die Seite und mit ihnen hilflose Passagiere über Bord, während andere in der Oberdeckskajüte vom herabfallenden Großmast erschlagen wurden. Balken, Rahen, Tonnen und Kisten – alles wirbelte herum. Die Unglücklichen wurden über Stunden mit Wucht gegen die Reling geworfen, eingekeilt und manche von ihnen gar bei lebendigem Leib zerdrückt.

Dreimaster
Ein Bild von der “Johanne” gibt es leider nicht. So ähnlich könnte die Dreimastbark aber ausgesehen haben. (Quelle: Inselmuseum Spiekeroog)

Die Einwohner der Insel mussten vom Strand aus hilflos zuschauen, wie der “Blanke Hans” wütete und vor ihren Augen alles verschlang: “Was tun für die vielen auf dem Schiff, deren Jammergeschrei trotz heulenden Sturmes, trotz des donnernden Getöses der gepeitschten Wogen doch uns ins Ohr und Herz drang! … Wir waren so nah den in Not Schwebenden und blieben ihnen doch so fern und taten nichts für sie – konnten nichts tun. … Wir konnten nicht retten. Das Rauschen der Wellen war ein Todesrauschen und erfüllt mit Todesgrauen.”

So beschrieb der Inselpastor Johann Doden in Kirchenbuch die Qual aller auf Spiekeroog, die sich am Strand versammelt hatten und zum tatenlosen Zusehen verdammt waren, denn Rettungsstationen und -boote gab es damals noch nicht. Als man Stunden später die Schiffsbrüchigen bergen konnte, zeigte sich das ganze Ausmaß der Katastrophe. Überall an Deck lagen Verwundete und Schwerverletzte. Eltern vermissten ihe Kinder und Kinder ihre Eltern. Familien waren auseinander gerissen, Ehepaare getrennt, Männer suchten vergeblich ihre Bräute. Das Unglück kostete 77 Menschen das Leben, darunter waren ausgesprochen viele Frauen, Kinder und Säuglinge. Ihre Namen finden sich heute säuberlich gelistet im Todes- und Begräbnisbuch der Insel Spiekeroog von 1854/1855.

Katastrophenhilfe auf Spiekeroog: Der Friedhof der Ertrunkenen

Wenn sie auch das dramatische Geschehen vor ihrer Insel nicht verhindern konnten, so leisteten die Bewohner von Spiekeroog geradezu Gewaltiges bei der Erstversorgung der Überlebenden und Verletzten. 135 Insulaner, so wenige lebten damals nur auf dem kleinen Eiland, nahmen die gut 150 Gestrandeten auf. Sie gaben ihnen trockene Kleider, ein Dach über den Kopf, etwas zu essen gegen den aufkommenden Hunger und spendeten Trost. Es mussten sogar Sonderfahrten zum Festland eingelegt werden, um Nahrungsmittel zu besorgen, da die Wintervorräte für solche Menschenmassen nicht langten. Unter Anleitung eines Arztes aus Carolinensiel, der schnellstens mit einem Sonderschiff herbei eilte, wurden die vielen Verwundeten des Unglücks versorgt. Jeden Tag trieben Tote an den Strand. Sie wurden geborgen und zunächst zur alten Inselkirche gebracht, bevor 40 auf dem für sie neu angelegten Drinkeldodenkarkhof – dem Friedhof der Ertrunkenen – begraben wurden, der noch heute im Nordosten des Inseldorfes zu besichtigen ist.

Alte Rettungsstation von 1862Die Katastrophe des Auswandererschiffs war einer der Auslöser für die Gründung der ersten Seenotrettungsdienste, aus denen sich dann 1865 die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) mit Sitz in Bremen formierte. Spiekeroog erhielt bereits 1862 eine Seenotrettungsstation, eine der allerersten in Deutschland. Mehr dazu und über die Geschichte und Gegenwart der Seenotretter liefert ein weiterer Beitrag auf Ostfriesland Reloaded: Die Seenotretter: Vom Ruderboot zum High Speed-Schiff.

Was passierte mit der “Johanne”, den Passagieren und der Schiffsglocke? Das Wrack sackte immer weiter in den Mahlsand vor Spiekeroog. Von dem einst prächtigen Schiff, das vor nicht einmal drei Wochen am 21. Oktober 1854 nagelneu, bestens ausgerüstet und absolut seefest vom Stapel lief, war nicht mehr als der Rumpf übrig geblieben. Der ist laut Überlieferung dann auch bald auseinandergebrochen. Holz vom Schiff, was antrieb, wurde von den Insulanern geborgen und als Bau- oder Brennmaterial eingesetzt. Schon nach kurzer Zeit war am Strand nichts mehr zu sehen von dem stolzen Dreimaster. Die meisten der Auswanderer auf der “Johanne” stammten aus einfachen Verhältnissen, kamen aus der Mitte und dem Süden Deutschlands, aus Würrtemberg, Niederbayern und Südhessen, auch aus der Rhön, dem Erz- und dem Fichtelgebirge, wohin sie nach dem Unglück, mittellos und getroffen von ihrem harten Schicksal, zurückkehrten. Einige, vor allen Dingen die Jungen, waren mutig genug und hatten die Mittel und die Kraft, die Reise über den Atlantik nochmals zu wagen.

Übrig blieb nur ein morscher Rumpf – und eine Schiffsglocke

Glocke im Museum
Die letzte Zeugin des Unglücks der “Johanne”: Notsignale von der Schiffsglocke

Die Schiffsleitung, darunter auch der Kapitän, Johann Diedrich Oldejans aus Bremen, wurde zehn Tage nach dem tragischen Unglück vom Königlich Hannoverschem Amtsgericht in Esens vernommen. Im Protokoll versichert er “daß wir alles getan haben, was in unseren Kräften stand, um Schiff und Passagiere zu retten, und daß wir gegen jede Verantwortlichkeit, welche durch das dem Schiff und der Ladung widerfahrene Unglück uns zur Last gelegt werden könnte, hiermit feierlich Protest einlegen.” Es ist nichts Gegenteiliges bekannt. Kapitän Oldejans soll es Gerüchten zu Folge später auf eine einsame Insel im Indischen Ozean verschlagen haben.

Vom Verbleib der Schiffsausrüstung, die im Frühjahr 1855 zum Verkauf angeboten wurde, weiß man auch nicht viel. Mit Ausnahme eines Verkaufsobjekts: 1 metallene Schiffsglocke für 45 Pfund. Die Schiffsglocke der “Johanne” ist das Einzige, was übrig blieb und heute noch an das dramatische Unglück erinnert. Viele Jahrzehnte hing sie am Schulgebäude von Damsum und später als Alarmglocke an einem Feuerwehrhaus in Westerbur – beides Dörfer westlich von Esens – bis sie 1979 zum 125. Jahrestag der Tragödie schließlich wieder nach Spiekeroog zurückkehrte. Da hängt sie nun schwer von der Decke des Inselmuseums und erzählt ihre traurige Geschichte.

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Und noch etwas

Die alte Rettungsstation von Spiekeroog steht immer noch weithin sichtbar an ihrem ursprünglichen Ort in den Dünen, Richtung Westende der Insel. Das weiß strahlende Gebäude wird heute vom Islandponyhof genutzt, Boote sucht man dort vergebens. Und auch anderswo gibt es keine Seenotrettungsboote mehr auf Spiekeroog. Angefangen hat alles einmal mit dem Unglück der Johanne. Umso mehr wundert es, dass heute auf allen Ostfriesischen Inseln Seenotrettungskreuzer oder -boote stationiert sind, selbst auf dem kleinen Baltrum, nur auf einer nicht: auf Spiekeroog. Hat doch diese Insel entscheidend dazu beigetragen, dass die Strandräuber von einst, zu Rettern in höchster Seenot wurden.

Veranstaltungshinweis:
Ökumenische Schiffsandacht im historischen Hafen von Carolinensiel
Samstag, 2. Juni 2018, 11:00 Uhr
Inselmuseum Spiekeroog:
Noorderloog 1
26474 Spiekeroog
Öffnungszeiten:
dienstags bis sonntags von 15.00 Uhr bis 17.30 Uhr
(Beginn Osterferien bis Ende Herbstferien)
Eintrittspreise: Erwachsene: 2,00 Euro / Kinder: 1,00 Euro
Tel: 04976 / 256

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