Nichts Böses ahnend ging man zu Bett an diesem 24. Dezember 1717. Die Familien hatten wie immer gemeinsam den Heiligabend gefeiert. Der Sturm, der im Laufe des Tages draußen immer heftiger aus West und später aus Nordwest blies, hatte sich zum späten Abend wieder gelegt. Der Mond stand im letzten Viertel, kurz vor einer Nipptide, die normalerweise nur eine schwache Flut bringt. Absolut keiner rechnete mit einer derart gewaltigen Sturmflut, wie sie dann nur wenige Stunden später die Menschen aus den Betten riss. So überraschend wie sie nachts kam, so grausam war sie, die Weihnachtsflut von 1717, die als die verheerendste Sturmflut der gesamten Neuzeit in die Geschichte der Nordseeküste einging. Sie überschwemmte das ganze Land, reichte von den Niederlanden bis nach Nordfriesland und zerstörte alles, was sich den Fluten in den Weg stellte, riss Gebäude, Höfe, Menschen und Tiere mit sich und raubte den Überlebenden die Existenz.
Was war geschehen? Tagelang hatte ein starker Wind aus Südwest vor Weihnachten ungeheure Wassermengen durch den Ärmelkanal in die Nordsee gedrückt. Parallel bewegten sich am Himmel über der Nordsee zwei Fronten aufeinander zu, aus denen sich in der Weihnachtsnacht plötzlich ein schwerer Orkan mit Starkwind aus Nordwest entwickelte. Der drückte unablässig die prall gefüllte Nordsee gegen die Deiche, deren Pegel, obwohl Ebbe, sehr schnell anstieg. Das Wasser konnte gegen den Windstau des Orkans nicht ablaufen wie normal, sondern stieg immer höher und höher, bis es schließlich die Deiche überspülte. Solchen Wassermengen und solcher Dauerbelastung konnten die alten Graswälle irgendwann einfach nicht mehr standhalten. Noch vor Einsetzen der Flut am Morgen brachen sie in sich zusammen.
Das Nordseewasser strömte mit voller Wucht tief ins Landinnere. Es kam förmlich von überall, von allen Seiten. Für die Menschen direkt hinter dem Deich, in den kleinen Sielhäfen der Küste, gab es kaum Rettung. Viele kamen noch auf dem Bett liegend um, besonders alte Leute und Kinder, die auf Hilfe angewiesen waren. Dort war die Zerstörung am größten, wurden die Menschen ohne Vorwarnung überrascht, passierte alles zu schnell. Auch den meisten anderen Menschen blieb nur wenig Zeit, sich auf ihre Dächer zu retten, bevor ihr Haus unter dem Druck der tobenden See zusammenbrach. Auf ihren Dächern trieben sie dahin, saßen auf Heuhaufen, die sich als Rettungsinseln sehr bewährten, oder hielten sich krampfhaft an Baumstämmen über Wasser, während die Fluten sie wild weiter ins Land spülten. Doch damit waren sie noch längst nicht gerettet, wie Friedrich Arends viele Jahre später, in seiner 1833 in Emden erschienenen Chronik, zu berichten weiß:
Nackend und bloß entrinnen die meisten der Gefahr, viele müssen so im Freien die lange kalte Winternacht, unter dem Heulen des rasenden Sturms, dem Toben der Wogen abwechselnd vermischt mit schwerem Regen, Hagel, Donner und Blitz ausharren. Auch dort für viele keine Sicherheit… von Kälte erstarrt fällt einer der Entkommenen nach dem Andern vom Baum, vom Dach, vom Heu herab oder gibt auf dem Zufluchtsort selbst seinen Geist auf.
“Eigentlich haben nur die jungen Männer überlebt”, resümmiert Paul Weßels von der Ostfriesischen Landschaft und einer der Veranstalter der zentralen internationalen Expertentagung am 12. Dezember in Emden. Im kleinen Küstenort Neßmersiel zählte man allein 150 Tote. In Westeraccumersiel blieben nur 7 von 100 Häusern erhalten. Dort waren 397 Tote zu beklagen, auch im benachbarten Dornumersiel ertranken fast alle Einwohner. In Bensersiel ist nur ein Beispiel bekannt, wo die Flucht auf ein Boot gelang. Die ostfriesischen Ämter mit Sielhäfen zur Nordsee wie Greetsiel (95 Tote), Norden (282 Tote), Berum (585 Tote), Esens (842 Tote) und Wittmund (373 Tote) listeten die höchsten Verluste an Menschenleben. Aber auch die Ämter Leer (5 Tote), Emden (53 Tote) und Pewsum (9 Tote) waren betroffen und selbst das Amt Aurich (92 Tote) in der Landesmitte verzeichnete Opfer. Insgesamt verloren mehr als 10.000 Menschen an der Nordseeküste ihr Leben. In Ostfriesland mit dem Harlingerland zählte man knapp 3.000 Opfer, in Oldenburg mit Butjadingen und den Herrschaften Jever und Kniphausen gut 4.000. Für Deutschland werden insgesamt zwischen 8.400 und 9.700 Tote genannt. Nach Schätzungen gingen ebenfalls 9.700 Pferde, 44.000 Rinder, 36.400 Schafe und 9.800 Schweine in den Fluten unter. Erst am Geestrücken und den Hochmooren, die das Innere der Halbinsel durchziehen, kam das Wasser in Ostfriesland zum Stehen.

Das Überschwemmungsgebiet hatte gewaltige Ausmaße und war niemals später, bei keiner Sturmflut bis heute größer. Sie ist auch die erste, die sehr gut dokumentiert ist. Es gibt viele Augenzeugenberichte von Betroffenen, Briefe, Kirchenbucheinträge, sogar einige Chroniken. Auch die amtliche Statistik arbeitete schnell: Bereits am 25.12.2017 übermittelten die beiden Ämter des Harlingerlandes, Esens und Wittmund, einen ersten Lagebericht an ihren Herrn, Fürst Georg Albrecht in Aurich. Betrübt und mit wehmütigem Herzen teilten sie mit, dass diesen Morgen zwischen 7 und 8 Uhr die gantze Gegend und hiesige Polder, soweit man nur sehen kann, von saltzem Wasser so hoch überschwemmt worden ist, dass von Uttel bis nach Isums hin und weiter hinauf in der ganzen Circumferentz und soweit der Horizont sich erstrecket bis an Jever heran und im Jeverland nichts als Wasser zu sehen ist, und nur noch einige nahe am Flecken Wittmund gelegene Äcker und der eintzige Weg nach Updorp zum theil noch davon befreyet ist. An den Küsten des Harlingerlandes waren die Deiche allein an 63 Stellen gebrochen. Auf großen Deichabschnitten waren die Deichkörper förmlich eingeebnet.
Man zählte fünf große Schiffe, die der Sturm und das Wasser hinter die Deiche getragen hatten. Eines wurde sogar bis nach Fulkum im Landesinneren gespült. Dort sah es auch Pastor Johann Christian Hekelius, der ein Fernglas besaß und das gestrandete Schiff von seiner Kirchenwarft in Resterhafe bei Dornum erspähte. Unter den Chronisten nimmt Hekelius eine Sonderrolle ein, weil er Augenzeuge des schrecklichen Geschehens der Weihnachtsnacht und der darauf folgenden Tage war. Sein Bericht gehört zu den eindringlichsten Schilderungen, die überliefert sind:
“Um meinem Hause herum sahe es aus als wen der grausamste Feind Hauß gehalten hätte; 8 tode Kühe sambt ihren Ställen waren da angeworffen; Häuser, Haußgeräthe waren da Stück-weise angetrieben; Breter, Sparren. Latten, Leitern, Rollbäume, Waltzen, Dächer von Häusern, Thüren oder Thoren lagen da durch einander und so viel Torff, Stroh und ander Guth, daß man kaum darüber gehen konnte. Auf dem Wasser selbst schwammen noch Betten, Kasten, Menschen, Vieh und allerhand Guth herum, welches unmöglich ohne Wehmuth, auch nicht ohne Angst konte betrachtet werden. Man sahe auch hin und wieder auf den Häusern Menschen sitzen, welche mit Noth-Zeichen durch Wincken und auf andere Weise ihr Elend vorstelleten, die doch nicht konten errettet werden, weil Fahr-Zeuge fehleten, auch das Wasster anfänglich noch zu ungestüm war und also nebst den Ihrigen Hunger und Durst, Kälte und Noth einige Tage haben leiden müssen.”
Denn erst zum 28.12.1717 schwächte der Sturm langsam ab. Noch Wochen und Monate nach der Flutkastastrophe wurden Leichen angeschwemmt. Es ist wieder Hekelius, der von einem der größten Leichenfunde jener “Nachflut”-Zeit berichtet: “Elendig mag es anzuschauen gewesen seyn, als bey Dornum, im Monat Februario, vor einem Steg 30 Personen, welche von dem Wasser zusammen getrieben waren, beyeinander todt gefunden, worunter Mütter waren, welche ihre Kinder umarmet, andere, die ihre Kinder fest an sich gebunden, einige die 2 von ihren Kindern in den Armen hatten …”
Es waren vor allen Dingen die Kirchen, die sich um die in Not geratenen Menschen kümmerten, sie aufnahmen und wie etwa Hekelius im großen Stil Spenden sammelten. Erst durch ihre Einträge in Kirchenbüchern und Chroniken ist vieles von dem unglaublichen Elend überliefert. Sie waren es aber auch, die die Weihnachtsflut als moralischen Zeigefinger zu nutzen wussten. Nach einer Rinderseuche in 1715, die zum Verlust von 60.000 Tieren führte, und einer Ungeziefer- und Mäuseplage in 1716, glaubten nicht wenige daran, dass Gott sie mit der Weihnachtsflut in 1717 für ihren Hochmut und Wohlstand in den Jahren davor strafen wollte. Auf Anordnung des Fürsten von Ostfriesland vom 4. Januar 1718 wurde nun täglich außer samstags zwischen 10 und elf Uhr zusätzlich eine Stunde gebetet, um auf diesem Wege Gottes Gnade wieder zu erlangen.
Der dringende Wiederaufbau der Deiche kam in manchen Gegenden jedoch nur schleppend voran. War es doch der schlechte Zustand der Deiche und weniger Gottes strafende Hand, der zu dem großen Unglück maßgeblich beigetragen hatte, wie fortschrittliche Geister schon damals herausfanden. Vor allen Dingen in Emden und Norden kam es durch ewige Kompetenzstreitigkeiten über die Ordnung des Deichwesens zwischen den Landständen und dem Fürstenhaus zu Verzögerungen, die neuen, kleinen Sturmfluten zwischen 1717 und 1721 ein leichtes Spiel machten und immer wieder zu neuen Zerstörungen an der sich nur langsam wieder schließenden Deichlinie führten.
Die Folgen der Weihnachtsflut waren für Land und Bevölkerung verheerend. Es dauerte in manchen Regionen bis zu 20 Jahre bis man sich einigermaßen von der Katastrophe erholt hatte. Das Land wurde für viele Jahre unfruchtbar, Erneteausfälle und Hunger folgten, es kam zu massenhaften Versteigerungen von Grund und Gütern. Gleichzeitig forderte der Deichbau zusätzliche Kräfte und Kosten. Das Volk litt besonders unter Sonderabgaben und Sondersteuern. Doch die langten längst nicht aus: Das ostfriesische Fürstenhaus musste sich bei vielen Herrschaftshäusern Geld leihen. Auch die Niederlande nebenan gaben großzügig eienen Kredit in Höhe von 1,2 Millionen Gulden.
Für Paul Weßels, Historiker und Leiter der Landschaftsbibliothek in Aurich, war die Weihnachtsflut von 1717 das einschneidende Erlebnis für Ostfriesland mit Folgewirkung. Aus ihr entsprang beispielsweise der Appelle-Krieg, ein regelrechter Bürgerkrieg zwischen fürstentreuen und “renitenten” Ständen um die Frage der Steuerhoheit im Lande, der schließlich das Land spaltete, Emden isolierte und erhebliche Auswirkungen auf die weitere Geschichte Ostfrieslands bis zur Machtübernahme durch die Preußen 1744 hatte. Auch der typische Backsteinbau, mit dem das ostfriesische Landschaftsbild bis heute so verbunden wird, ist ein Resultat dieser Jahrhundertkatastrophe. Die massiv gemauerten Wände boten mehr Schutz und Sicherheit bei Überschwemmungen als die alten Holzständerkonstruktionen und Lehmbauten. Und last but not least markiert die Weihnachtsflut von 1717 den Wendepunkt im Deichbau: Mit ihr begann erst der moderne und organisierte Küstenschutz an der Nordsee.
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Weiterer Lesetipp: Dort an den Bäumen scheusliche Leichen hangend, welt.de, 25.12.2017
Weitere Informationen zur Wanderausstellung: 300 Jahre Weihnachtsflut, bis 6. Mai 2018
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