Auch Deutschland hat einen riesigen Verteidigungswall. Nicht ganz so lang wie die Chinesische Mauer und auch nicht ganz so alt, aber mindestens genauso so wichtig für das Überleben der Menschen, die hinter ihm leben. Er ist so selbstverständlich da, dass wir ihn kaum noch wahrnehmen: der Deich. Das war nicht immer so. Von einer frühen Erkundungsfahrt, die der römische Feldherr Drusus im Jahr 12 v. Chr. in die entlegenen und schwer zugänglichen Landstriche im hohen Norden unternahm, hält der Historiker Plinius fest:
<< Eine Gegend von der es zweifelhaft ist, ob sie zum Land oder zum Meer gehört. Dort bewohnt ein beklagenswertes Volk hohe Erdhügel, die mit Händen nach der Maßgabe der höchsten Flut errichtet sind; in den so erbauten Hütten gleichen sie Seefahrern, wenn das Wasser das umliegende Land bedeckt, Schiffbrüchigen, wenn es zurückgetreten ist; auf die zugleich mit dem Meere zurückweichenden Fische machen sie um ihre Hütten herum Jagd. Es ist Ihnen nicht vergönnt, Vieh zu haben, sich von Milch zu ernähren wie ihre Nachbarn, ja nicht einmal mit wilden Tieren zu kämpfen, da jegliches Buschwerk fehlt. Aus Schilfgras und Binsen flechten sie Stricke, um Netze für die Fische daraus zu fertigen, und indem sie den mit den Händen ergriffenen Schlamm mehr am Winde als an der Sonne trocknen, erwärmen sie ihre Speisen und die vom Nordwind erstarrten Glieder durch Erde. Zum Trinken dient nur Regenwasser, das im Vorhof des Hauses in Gruben gesammelt wird. >>
Erst mit dem Bau einer geschlossenen Deichlinie entlang der Küste wurde der Norden Deutschlands, das Land der Friesen, überhaupt großflächig besiedelbar. Ab 1000 n. Chr. begann man mit dem Bau von Deichen, die zunächst ringförmig angelegt waren um die Ackerflächen vor Überflutungen und Versalzung zu schützen. Seit dem 12. Jahrhundert wurden die einzelnen Ringdeiche nach und nach miteinander verbunden bis zum Ende des 13. Jahrhunderts eine geschlossene Deichlinie entlang der Nordseeküste entstand: der Goldene Ring. Dieser umschloss das komplette Friesland von der heutigen niederländischen Provinz über Ostfriesland, Butjadingen und Dithmarschen bis nach Nordfriesland.
Auch heute ist diese Investition unserer Vorfahren in den Küstenschutz noch Gold wert: Hätten wir diese große Mauer nicht, würden weite Landesteile von der Nordsee regelmäßig überschwemmt, würden die flachen Marschgegenden wieder zu Meeresgrund. Allein in Niedersachsen werden heute 6.600 Quadratkilometer Land mit zirka 1,2 Milionen Einwohnern und Werten in Höhe von etwa 129 Milliarden Euro durch den langen Schutzwall gesichert, so der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN). Rund 1/7 der Landesfläche ist potentiell sturmflutgefährdet. “Gott schuf das Meer und die Friesen die Küste”, diese alte Weisheit gilt bis heute. Küstenschutz war und ist dabei stets eine andauernde Anpassung an sich ändernde Verhältnisse.
Flexibilität ist für Frank Thorenz, Leiter der Betriebsstelle Norden-Norderney des NLWKN, das Gebot der Stunde. Denn auch zur Zeit verändern sich wieder die Verhältnisse, steigen die Meeresspiegel durch den Klimawandel und damit auch an der Nordsee. Doch wie hoch genau? Die Szenarien für die Zukunft sind unterschiedlich, die Spannweiten der Prognosen für den globalen Anstieg des Meeresspiegels in diesem Jahrhundert sind groß. Sie reichen von 40 bis 80 Zentimetern des Weltklimarats IPCC bis zu 0,83 bis 1,70 Metern, die der Wissenschaftliche Beirat der Bunderegierung in einem Sondergutachten zu globalen Umweltveränderungen formuliert hat.
Thorenz: “Wir wissen einfach nicht genau, was uns erwartet. Mit dieser Unsicherheit müssen wir derzeit leben.” Was den Küstenschutzexperten und Professor an der Technischen Universität Braunschweig nicht sonderlich beunruhigt: “Unsere Küstenschutzanlagen sind in einem erstklassigen Zustand.” Auch dank eines festen gesetzlichen Rahmens, moderner Planungsstrukturen und Investitionen, die sich in einem Zeitraum von 1955 bis 2007 auf eine Höhe von etwa 2,75 Milliarden Euro ingesamt beliefen. Für 2014 waren rund 68 Millionen Euro für die Umsetzung des Generalplans Küstenschutz veranschlagt, den das NLWKN in 2007 für Niedersachen und Bremen und in 2010 dann auch für die Ostfriesischen Inseln erstellt hat.
610 Kilometer Hauptdeiche und 17 Sperrwerke übernehmen momentan am Festland den Schutz von überflutungsgefährdeten Gebieten in Niedersachsen. Dabei handelt es sich um ein ganzes Küstenschutzsystem aus Deichvorländern, Hauptdeichen und teilweise zweiten, älteren Deichlinien: 77 % der gesamten niedersächsischen Deichlinie besitzt ein Vorland, der Deich ist also nicht direkt dem Wasser ausgesetzt. Die Deichvorländer sowie die vorgelagerten Inseln sorgen an der Küste für eine erste Wellendämpfung bei stürmischer See. Meistens ist es nur ein Deich, der die Niedersachsen schützt. Nur selten, auf 15 % der Strecke ist eine zweite Deichlinie, ein Altdeich, vorhanden. Daher kommt auch der Bemessung der Deichhöhe eine besonders wichtige Rolle zu.
Grundlage der Berechnung bilden zunächst die Gezeiten. Man nimmt das Mittlere Tidehochwasser, das auf Borkum etwa bei 1,1 Metern, in Bremen dagegen bei 2,5 Metern liegt; dazu kommt noch die größte Erhöhung des Wasserspiegels während einer Springtide, einer durch die Stellung von Mond und Sonne verursachten stärkeren Flut als normal. Als nächstes wird der Windstau berücksichtigt, der bei einer Sturmflut entsteht und dazu führt, dass durch den starken Wind immer mehr Wasser gegen den Deich getrieben wird und sich aufstaut. Dieser kann in einer gewaltigen Größenordnung von 3 bis 4 Metern liegen. Dazu kommt noch ein Vorsorgemaß von 50 Zentimetern. Gezeiten, Windstau und Vorsorgemaß ergeben den Bemessungswasserstand. Um die Sollhöhe für den Deich zu ermitteln, wird noch ein möglicher Wellenauflauf von 1 bis 5 Metern kalkuliert. Somit ist man in Niedersachsen auf der sicheren Seite vor Sturmfluten auch gewaltigster Wellen und Wasserstände: “Was die Deichhöhen angeht, ist noch eine Menge Luft nach oben”, sagt Küstenschützer Thorenz.
Die Sollhöhen für die Deiche betragen momentan zwischen 7,80 und acht Metern. Für ansteigende Meeresspiegel durch den Klimawandel ist mit dem Vorsorgemaß von 50 Zentimetern bereits eine Sicherheitsreserve einkalkuliert, die für massive Bauwerke in der Deichlinie um weitere 50 erhöht werden kann. Zudem ist eine planmäßige Überprüfung der oben ausgeführten Bemessungsgrundlagen für die Höhe der Deiche alle zehn Jahre vorgesehen, um flexibel auf neue klimatische Bedingungen reagieren zu können. Der Erhalt und aber auch der Gewinnung von Deichlandvorflächen gehört ebenfalls in den Maßnahmenkatalog des NLWKN, sollte dies der Klimawandel erfordern.
Für den scheinen sich die Küstenschützer zu wappnen. Insbesondere die Ostfriesischen Inseln wären davon als Erste betroffen, sind sie den Gewalten der Nordsee doch direkt ausgesetzt. Der NLWKN schützt sie mit insgesamt 35 Kilometern Hauptdeichen, die meistens Richtung Süden gegen das Wattenmeer gerichtet sind, und mit 97 Kilometern Schutzdünen und Sicherungsbauwerken Richtung Norden zur offenen See. “In sandigen Küsten muss man mit der Natur arbeiten, nicht gegen sie”, betont Thorenz. Daher setzt der niedersächsische Küstenschutz bei der Sicherung der langen Sandstrände der Inseln wo immer möglich auf naturnahe, ingenieurbiologische Maßnahmen – wie auf Sandfangeinrichtungen um Dünenhänge zur Seeseite nach Abbrüchen wieder aufzubauen, auf Sedimentpolster für Mangelphasen oder auf den Schutz von Dünengräsern vor dem Ausblasen von Sand.
Wo erforderlich wird auch weiterhin Sand vor den Inseln aufgespült und die Schutzdünen verstärkt. Allein auf Norderney wurden laut dem NLWKN seit 1951 in zwölf Aufspülungen dem gefährdeten Nordwesten der Insel rund 5,2 Millionen Kubikmeter Sand zugeführt und damit die Küstenschutzbauwerke gesichert. Sicher ist aber auf jeden Fall: Der Klimawandel wird auf den fragilen Eilanden aus Sand eine verstärkte Küstenerosion verursachen. Die Ostfriesischen Inseln stehen hier unter verstärkter Beobachtung der Küstenschützer. Für Thorenz gilt es langfristige Schutzkonzepte zu entwickeln, die eine Sedimentgewinnung unterstützen.
Auf den Inseln bringen das Land Niedersachsen und damit der NLKWN allein die Mittel und das Personal für den Küstenschutz auf. Für die Deiche des Festlands und ihren Erhalt sind aber immer noch 22 ehemals autonome Deichverbände verantwortlich. Die Deichacht, wie sie auch genannt werden, hat Tradition und ist eine genossenschaftliche Aufgabe. Sie wird seit Generationen von den Grundeigentümern der Küste ausgeübt und bis heute auch ausschließlich von ihnen finanziert. Das Ostfriesland Magazin hat die Deichacht Norden diesen Herbst begleitet zur Deichschau. Entstanden ist eine sehr lesenswerte Reportage im aktuellen Heft – immer den Deich entlang.
Kurz gefasst: Die Deichgrafen steigen heute nicht mehr auf einen weißen Schimmel, sondern nehmen den weißen Jeep für die zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, stattfindenden Kontrollfahrten. In Ostfriesland heißen die Deichgrafen auch etwas nüchterner Deichrichter. Vier sind es in der Deichacht Norden, die unter Oberdeichrichter Heinrich Jabben einen gut 30 Kilometer langen Hauptdeich vom Leybuchtpolder bis hinter Neßmersiel an die Grenze des Harlingerlands betreuen. Nicht die Deichhöhe, sondern das Treibsel nach Sturmfluten sind dieser Tage ein Problem. Die abgestorbenen Schilf- und Pflanzenreste bleiben im Herbst bei höheren Flutsäumen oft auf der Grasnarbe des Deiches liegen und ersticken auf Dauer das Grün darunter. Das kann langfristig dem Wall und seiner schützenden Kleiabdeckung schaden, bis hin zum Freiliegen des Sandkerns im Innern. Der Abtransport des Treibgutes ist sehr aufwändig und kostet. Die Alternative wäre, das Deichvorland wieder stärker beweiden zu lassen, was aber aus Gründen des Naturschutzes im Nationalpark Wattenmeer nur eingeschränkt möglich ist.
Damit hatten unsere Vorfahren sich noch nicht auseinanderzusetzen – aber schon mit Wühlmausen. Damals wie heute graben die kleinen Nager Löcher in den Wall und damit gefährlich an der Substanz des Deiches. Für den Sommer 1717 verzeichnen die alten Chroniken für Ostfriesland eine regelrechte Mäuseplage. Überhaupt scheint nach den Historikern, die auf der zentralen Tagung in Emden die Ursachen der Weihnachtsflut 1717 analysierten, nicht nur das unbändige Wetter, sondern vor allen Dingen auch der schlechte Zustand der Deiche eine große Rolle gespielt zu haben. Sie waren viel zu niedrig, etliche Schwachstellen waren nicht ausgebessert und Schäden früherer Sturmfluten nicht repariert.
Unter dem Eindruck der Katastrophe wurden in den Folgejahren des 18. Jahrhunderts erstmals eine zentrale Deichorganisation eingerichtet und jährliche Deichschauen durchgeführt. Parallel entstand das Küsteningenieurswesen. Die Weihnachtsflut von 1717 markiert den Beginn des modernen Küstenschutzes. Als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern ist der Küstenschutz heute sogar im Grundgesetz im Artikel 91a verankert. Niedersachsen ist das einzige Bundesland mit einem eigenen Deichgesetz, dem NDG.
Und zukünftig? Experte Thorenz gibt allzu ängstlichen Gemütern Entwarnung: “Der Küstenschutzstandard in Niedersachsen ist besser als er je zuvor war und hat sich bei allen aktuellen Sturmfluten bewährt.” Wie in 2006 und 2013, als gewaltige Sturmfluten an verschiedenen Stellen des Landes neue Rekordmarken setzten und die Wasserstände beispielsweise deutlich höher waren als bei der großen Katastrophe des letzten Jahrhunderts, der Februarflut von 1962 in Hamburg.
Die frohe Botschaft, die Ostfriesland Reloaded Ihnen hier zum Feste verkünden kann, lautet: Es lebt sich heute sicherer hinter den Deichen als jemals zuvor. Eine Sturmflut mit einer solch unglaublichen Zerstörung wie die von Weihnachten 1717 ist wohl nicht mehr zu befürchten.
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