Langsam verblasst die Erinnerung an jene Zeiten, als die Eisenbahn Ostfriesland erstmals mit den Metropolen und den Wirtschaftszentren des 19. Jahrhunderts verband. Als auf der Schiene der Tourismus und die Kohle in das abgeschiedene und durch große Moorgebiete auch abgeschnittene Agrarland im Norden kam. Als Ostfriesland den Anschluss an die Moderne fand. Als die Bahn dem Landstrich am äußersten Rand der Nation einen ungeheuren Entwicklungsschub gab.
So bedeutend Bahn und Schienen für Ostfriesland einmal waren, heute spielen sie eine eher untergeordnete Rolle im öffentlichen Personennahverkehr der Region. Ein Schienennetz existiert quasi nicht mehr. Die Querverbindungen wurden gekappt, nur zwei einsame Schienenfinger ragen noch links und rechts des Festlands heraus: Endstation Norden/Norddeich auf der einen Seite und Esens auf der anderen. Weiter geht’s nicht mit der Deutschen Bahn in Ostfriesland. Und auch auf diesen Strecken heißt es nicht selten: Schienenersatzverkehr – der Bus übernimmt.
Diese Geschichte kann also gar nichts anderes werden als eine Sentimental Journey: eine Fahrt zurück in die Vergangenheit und zu den Menschen und Orten, die auch heute noch in Ostfriesland Eisenbahnromantik pflegen und anbieten.
Auf der schmalen Spur: Von Inselbahnen und Pferdeantrieb
Eine ostfriesische Spezialität, die es so natürlich nur in wenigen Regionen Deutschlands geben kann, sind die Inselbahnen – setzen sie doch zumindest die Existenz von Inseln voraus. Auf den ostfriesischen wurden die ersten Inselbahnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Die Schmalspurlinien besaßen in aller Regel keinen Anschluss an das reguläre Eisenbahnnetz, waren aber extrem wichtig für die wirtschaftliche und touristische Entwicklung der bis dahin meistens bitterarmen Eilande. Neben der üblichen Personen- und Güterbeförderung gab es in den beiden Weltkriegen spezielle Feldbahnen für militärische Zwecke, später kamen auch Bahnlinien hinzu, die nur für den Küstenschutz bestimmt waren. Die meisten dieser Kleinbahnen sind längst stillgelegt. Bis heute ununterbrochen in Betrieb ist dagegen die älteste Inselbahn Deutschlands, die 1879 eröffnete Borkumer Kleinbahn.

Sie begann ihre lange Karriere einst als Pferdebahn – denn der Sprung auf die Schiene vollzog sich zu Beginn über das Pferd. Lange bevor Dampf- und später Dieselloks die Bahnwaggons zogen, spannte man ein Pferd vor’s Gefährt und zog damit Mensch und Fracht über die Gleise. Dieses kuriose Gespann der frühen Eisenbahngeschichte ist sogar heute noch zu bestaunen: Auf Spiekeroog fährt die letzte ihrer Art in Deutschland, die von 1885 bis 1949 auf der Insel als ganz reguläres Verkehrsmittel genutzt wurde, als Museums-Pferdebahn auf historischer Strecke.
Alles andere als museal sind dagegen die Kleinbahnlinien auf Langeoog und Wangerooge, die neben Borkum heute noch zu den einzigen Ostfriesischen Inseln gehören auf denen die Schmalspurbahnen im Linienverkehr unterwegs sind. Mehrmals täglich zuckeln die bunten, technisch und optisch perfekt gepflegten Züge durch die Salzwiesen und bringen Millionen von Touristen jedes Jahr vom Fährhafen in die Hauptorte der Inseln. Sie sind die sympathischen Entschleuniger bei der Ankunft, stimmen auf charmante Weise auf das langsamere Inseltempo ein: Wie gemacht für uns stress- und zeitgeplagte Existenzen und daher auch nicht nur bei Kindern ausgesprochen beliebt. Manche Liebhaber haben sogar eigens Bücher über sie verfasst. Sie heißen entweder Inselbahnen der Nordsee (von Malte Werning) oder Die Nordsee-Inselbahnen (von Hans W. Rogl).
Öffentlich nicht zugänglich ist die einzig noch in Betrieb stehende Küstenschutzbahn auf einer Insel. Sie befindet sich auf der unbewohnten Ostfriesischen Insel Minsener Oog, östlich von Wangerooge, und wurde 1925 eröffnet. Ihre Strecke führt heute durch ein Naturschutzgebiet für Seevögel im UNESCO Weltnaturerbe und Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.
Auch auf dem Festland gab es mehrere Kleinbahnstrecken, beispielsweise die Verbindung zwischen Emden und Greetsiel oder die zwischen Ihrhove und Westrhauderfehn ganz im Süden Ostfrieslands. Sie waren wichtig für Frachtgut, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch besonders für die vielen Arbeitspendler. Mit dem Aufkommen von PKWs und LKWs verlagerte sich der Verkehr zunehmend auf die Straße, wurden die Linien unrentabel und schließlich eingestellt. Im Rahmen der großen Ostfrieslandaustellung Unnerwegens konnte man ihnen dieses Jahr in Campen im Landwirtschaftsmuseum nachspüren. Im Fehn- und Schiffahrsmuseum West-Rhauderfehn ist ein originalgetreues Modell der Strecke zu betrachten.
Die stillgelegten Bahntrassen sind mittlerweile attraktive Radwege. Auch der fast 100 Kilometer lange Ostfriesland-Wanderweg verläuft in Teilen auf der ehemaligen Kleinbahnlinie, die einst Leer, Aurich und Wittmund miteinander verband. Heute ist die Strecke vor allen Dingen bekannt durch den Ossiloop, der jedes Jahr Tausende von Langstreckenläufern anzieht.
Die Große: Die Ostfriesische Küstenbahn

Spurenwechsel: Von der Schmalspurbahn zur Normalspur, von der Kleinbahn zurück zu der “echten” Großen – zur Ostfriesischen Küstenbahn. Sie war für gut hundert Jahre das Rückgrat der ostfriesischen Küste. 1883 eröffnet verband sie die Stadt Norden im Westen mit Sande im Osten und bildete die zentrale Querverbindung der Kleinstädte hinter der Küste wie etwa Hage, Dornum, Esens, Wittmund, Jever und Schortens. “War” muss man sagen, denn auch sie existiert in der Form nicht mehr.
Der westliche Teil wird heute für Ausflugsfahrten und touristische Angebote genutzt. Auf der Original-Strecke kann man dem Geist der Jahrhundertwende vor den beiden Weltkriegen nachspüren und sich wie im berühmten Roman Das Rätsel der Sandbank als Agentenjäger fühlen. Als Museumseisenbahn ist die Küstenbahn Ostfriesland in den Sommermonaten jeden Sonntag und während vieler Sonderfahrten zwischen Norden und Dornum unterwegs. Im Bummeltempo geht es über 17 Kilometer quer durchs Land. „Die Fahrkarten bitte!“ und los geht’s in den harten „Donnerbüchsen“, den musealen Sitzwagen von 1930.
Äußerst erfolgreich betrieben wird die Museumsbahn seit mittlerweile dreißig Jahren von einem Verein leidenschaftlicher und verrückter Idealisten, kurz MKO genannt, die auch ein Eisenbahnmuseum im Norder Lokschuppen betreuen. Die Mitglieder quälen sich dann bei heißestem Sommerwetter in altehrwürdige blaue Uniformen, setzen die hohe Schirmmütze auf den Kopf und zücken ihre Lochknipser. Dermaßen bewaffnet und natürlich auch mit dem spröden Charme echter Eisenbahner geht es dann mit roter Diesellok und historischen Wagen entlang der alten Eisenbahntrasse.
Ganz anders sieht es im östlichen Teil der Strecke aus. Hier findet ein ganz regulärer, zeitgemäß-moderner Personenverkehr durch die Linie RB59 der NordWestBahn statt, der allerdings Esens nicht mehr in der Mitte, sondern als Endpunkt einer Strecke hat, die von Wilhelmshaven/Sande aus startet. Statt eines Museums hat Esens sich einen nagelneuen Bahnhof gegönnt.
Und in der Mitte der Ostfriesischen Küstenbahn? Nichts. Das Teilstück zwischen Dornum und Esens wurde Ende September 1985 stillgelegt, die Gleise 1986 demontiert und ein Fahrradweg darüber gepflastert. Seitdem ist Ostfriesland ein geteiltes Land – jedenfalls eisenbahntechnisch gesehen.
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Und noch etwas
Auch wenn man heute der Eisenbahn keinen großen Bahnhof mehr macht in Ostfriesland, so gibt es doch noch einen besonders schönen zu bewundern: Der Bahnhof von Aurich, ehemals Start- und Endpunkt für eine Zugfahrt nach Emden, steht in voller Pracht mit schmucker Gründerzeitfassade auf dem Gelände des Gymnasium Ulricianum, in der Von-Jhering-Straße 15, direkt bei der Allianz-Arena.
Die Weichen nach Aurich werden seit April 2008 wieder neu gestellt – und zwar von der Firma Enercon. Der führende Windanlagensteller ist Besitzer der 13 Kilometer langen Fahrstrecke, die Aurich mit Abelitz verbindet, einem reinen Betriebsbahnhof für den Anschluss an die bedeutende Nord-Süd-Bahnverbindung über das Emsland. Betreiber ist die Eisenbahninfrastrukturgesellschaft Aurich-Emden mbH (EAE). Die Strecke verläuft in weiten Teilen parallel zur Bundesstraße 72. Riesige Windflügel ziehen hier ihre Bahnen, der Autofahrer steht an der Ampel nebendran und staunt.