“Ich stehe hier auf einer Plat und muß ertrinken.” Mit diesen wenigen Worten wurde er unsterblich. Tjark Evers aus Baltrum ist nur 21 Jahre alt geworden. Doch seine überaus bewegenden Zeilen, die er im Angesicht des nahenden Todes seiner Familie auf der heimatlichen Insel zum Abschied schrieb, währten weit über sein kurzes Leben hinaus. Sie rühren die Menschen bis heute. Wie gefährlich Nebel und schlechte Sicht im Wattenmeer werden können, davon zeugt sein unbarmherziges Schicksal, eine der tragischsten Geschichten Ostfrieslands, die historisch überliefert ist. Sie passierte vor gut 150 Jahren, am vierten Advent des Jahres 1866, direkt vor der Insel Baltrum.
Tjark Ulrich Honken Evers, so der vollständige Name, ist Insulaner. Seine Familie lebt seit Generationen schon auf Baltrum. 1866 hält er sich aber meistens auf dem Festland auf, in der Navigationsschule in Timmel, wo er sich zum Steuermann ausbilden lässt. Kurz vor Weihnachten macht er sich von dort aus auf den Weg zur Küste, um seine Familie mit einem Besuch zu überraschen. Am 22. Dezember, abends, kommt er im alten Hafen von Westeraccumersiel an. Am nächsten Morgen, früh um halb sieben Uhr, besteigt er ein Ruderboot, das ihn auf die heimatliche Insel bringen soll. Es ist der Adventssonntag und es beginnt die Flut, auflaufend Wasser. Dichter Nebel liegt über dem Wattenmeer.
Erst geht es Richtung Langeoog, um einen anderen Insulaner auf Heimatbesuch abzusetzen, dann mit festen Ruderschlägen weiter westwärts nach Baltrum: quer durch die starke Strömung des Accumer Ee, das Seegatt zwischen den beiden Inseln, und dann nur noch ein kurzes Stück weiter und sie sind da! In der festen Überzeugung Baltrum erreicht zu haben, verabschiedet sich Tjark Evers von den beiden Ruderern und steigt aus dem Boot, das sich sofort zurück Richtung Festland begibt und schnell von ihm entfernt. Wie er zu seinem Entsetzen jedoch nur ein wenig später feststellen muss, ist den Bootsleuten und ihm ein schrecklicher Irrtum unterlaufen: Das, was sie für den Rand der Insel hielten, ist in Wirklichkeit eine vorgelagerte Sandbank, die vollkommen vom Wasser umzingelt ist und dessen Pegel unerbittlich steigt!
Vollkommen orientierungslos im Nebel, kaum noch einen Funken Hoffnung, von einem vorbeifahrenden Schiff entdeckt zu werden, und viel zu spät, um den immer stärker reißenden und eiskalten Fluten irgendwie noch watend oder schwimmend zu entkommen, holt er sein kleines Notizbuch, in das er sonst seine trigonometrischen Formeln einträgt, aus dem klammen Seesack, auch seinen Bleistift und schreibt im Angesicht seines Todes diese erschütternden Zeilen:
Liebe Eltern / Gebrüder u Schwestern/
ich stehe hier auf / einer Plat / und muß / ertrinken ich bekom / me Euch nicht / wieder zu sehen / und ihr mich nicht
Gott erbarme sich / über mich und tröste / Euch ich stecke / dieses Buch in / eine Sigarren / Kiste. Gott gebe / daß Ihr die Zeilen / von meiner Hand / erhaltet. Ich grüße / Euch zum letzten Mal
Die „Sigarren Kiste“ wurde tatsächlich, wie von Tjark Evers sehnlichst erhofft, an Land gespült: Zehn Tage nach seinem Tod, am 3. Januar 1867, wurde sie viele Kilometer weiter östlich bei Wangerooge, dem äußersten Eiland der ostfriesischen Inselkette, angetrieben. Sie war mit einem Tuch verschnürt, und hatte ihren kostbaren Inhalt vor dem Wasser der Nordsee geschützt und für immer bewahrt. Zwei Tage später erfuhren seine Eltern schließlich vom Schicksal ihres jüngsten Sohnes und dass dieser am 23. Dezember, kurz vor Heiligabend, ganz in ihrer Nähe umgekommen ist. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Am 28. Januar 1867 hält Pastor Enno Kittel dieses Ereignis im Todes- und Begräbnißbuch von Baltrum für das Jahr 1866 genau fest wie auch den Wortlaut des Abschiedstextes. Auf einer weiteren dritten Seite im Taschenbuch des elendigen Tjark Evers ist demnach noch folgendes zu lesen:
Gott vergebe mir / meine Sünden und / nehme mich zu sich / in sein Himmelreich / Amen —- An / Schiffer H. E. Evers / Baltrum / T U H Evers / Ich bin T. Evers / von / Baltrum
Die Originalfundstücke, zu denen neben der hölzernen Zigarrenkiste auch das Taschenbuch, der Bleistift sowie das Halstuch für seine Mutter gehören, sind bis heute erhalten und im Heimatmuseum von Baltrum, dem Alten Zollhaus, zu sehen. Das war nicht immer so. Sie wurden auch zeitweilig im Heimatmuseum von Esens, wo direkte Nachfahren der Familie Evers heute zu Hause sind, und im Nordseehaus in Wilhelmshaven präsentiert. Im Juni 2002 feierte der Heimatverein der Insel Baltrum die “Rückkehr der Zigarrenkiste”. Persönlich überreicht von Horst Evers, dem Urenkel des Bruders von Tjark Evers, hat sie hier nun den Ort wieder erreicht, für den sie vom Absender einmal bestimmt war: Baltrum.
Mit der Novelle Auflaufend Wasser haben Astrid Dehe und Achim Engstler dem Verzweifelten und schließlich auch an Gott, dem “Gütigen”, zweifelnden, von aller Hoffnung verlassenen Tjark Evers 2013 ein literarisches Denkmal gesetzt.
Auflaufend Wasser
Novelle von Astrid Dehe / Achim Engstler
Steidl Verlag, Göttingen, 2013
Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg
(Die Kleine Reihe), 103 Seiten,
Preis: 12,95 Euro
Und noch etwas
Auf den beiden Fotos unten sehen Sie zwei Orte der Unglücksfahrt:
Das Ruderboot näherte sich damals von rechts, von Langeoog, der Insel Baltrum. genauso wie es das rechte Bild zeigt. Weiter auf dem Weg nach Westen, nach links, nähert man sich später der Insel Baltrum. Dort, vor der Insel, befand sich auch die trügerische Sandbank. Die Ruderer und Tjark Evers hatten leider nicht so eine herrliche Sicht wie Ostfriesland Reloaded im Sommer 2017, als die Aufnahmen gemacht wurden. Bei diesem strahlend blauen Himmel ist es kaum vorstellbar, dass hier im Nebel einsam auf einer Sandbank einst ein junger Mann auf so tragische Weise sein Leben ließ.
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Ein Gedanke zu „Im Zweifelsfall tödlich: Trügerisches Wattenmeer“