Langstreckenschwimmer brauchen vor allen Dingen Ausdauer. Aber bei der Anmeldung für ihre Wettkämpfe, da kommt es dann ausgesprochen stark auf eine gewisse Grundschnelligkeit an. Um genau 20:00 Uhr wurden am Sonntag, den 26. Februar 2017 die insgesamt 300 Startplätze für das Inselschwimmen nach Norderney am 23. Juli freigeschaltet. Nur sieben Minuten und zwei Sekunden später waren alle weg. Das ist gar nicht mal so schnell im Vergleich zu anderen Saisonhöhepunkten der Schwimmszene. Das Förde Crossing von Dänemark nach Glücksburg oder das Sundschwimmen in Stralsund gehen in weniger als 60 Sekunden an die Starter. Da sitzt dann Claudia Brase um Mitternacht am häuslichen Rechner, um mit Sekundenschlag Null Uhr den Startplatz für die begehrten Rennen zu sichern. Für ihren Mann, für sich, manchmal auch für ihre Söhne. Je nachdem. Das ist so üblich bei den großen Wettkämpfen, erklärt sie. Und das Inselschwimmen der DLRG Norderney gehört definitiv zu den Top Drei der Langstreckenschwimm-Events in Norddeutschland.
Die Brases sind eine Familie, die sich voll und ganz dem Schwimmen auf der Langdistanz verschrieben hat: “Hatten wir die letzten Jahre immer jedes Wochenende im Sommer ein Rennen, so sind es jetzt oft zwei, samstags und sonntags”, kommentiert Claudia Brase leicht augenzwinkernd den familiären Ausnahme-Schwimmzustand.
Sie wagt sich an diesem Wochenende nicht auf die Schwimmstrecke zur Insel, die ihr persönlich zu lang und anspruchsvoll ist. 8,2 Kilometer gilt es zu überwinden, das sind wahre Marathondimensionen, die sie an diesem Tag lieber ihrem Mann überlässt. Der startet für den SC Seevetal und ist morgens wie seine vielen Mitstreiter und -streiterinnen im Bus zum Hilgenriedersiel gebracht worden – dem kleinen Naturbadestrand, der auf Höhe des Insel-Leuchtturms gegenüber von Norderney liegt. Eine lokale Besonderheit: Bevor es überhaupt ins kühle Nass der Nordsee geht, muss erst einmal im Neoprenanzug und mit Badekappe ein strammer Fußmarsch von etwa ein Kilometer durch die Salzwiesen absolviert werden.
Während sich ihr Ehemann um 11:30 Uhr in die Fluten stürzt ist Claudia Brase mit der Fähre nach Norderney unterwegs, zusammen mit anderen Frauen, die allesamt geprüfte Begleiterinnen extremsportelnder Männer sind. Auf dem Oberdeck des Schiffs ist beispielsweise auch Uta. Sie war gerade mit ihrem guten Freund beim Ironman in Frankfurt, dem großen europäischen Triathlon-Event auf der Langdistanz. Da hat sie ihm mit Lippenstift ein Transparent zur Motivation für die Radstrecke gemalt. Eben noch am Langener Waldsee in Hessen, jetzt auf dem Weg zur Insel Norderney.
Dort bereitet man sich auf die Ankunft der Schwimmer vor, mit viel Regen anfangs, aber das kann die gute Laune nicht wirklich trüben: Die Technik funktioniert, die Rampe zum Zieleinlauf steht und das ist schließlich das Wichtigste.
Nach 1 Stunde, 44 Minuten und 34 Sekunden ab Start kommt der erste Schwimmer ins Ziel: Milo Grosz, ein Monoflossenschwimmer. Gefolgt vom Niederländer Rob Fokkinga, dem mehrmaligen Sieger des traditionellen Inselschwimmens, das seit 1989 mit kurzen Unterbrechungen jedes Jahr an der ostfriesischen Nordseeküste ausgetragen wird. Lange Jahre schwamm man von Bensersiel nach Langeoog, seit 2013 ist Norderney das Ziel.
Sichtlich begeistert von der Nordseeinsel und der Veranstaltung des DLRG ist auch die Frau des heutigen Zweiten, Antonetta Eilers aus Utrecht. Mit hunderten Anderen steht sie applaudierend im Zieleinlauf und feiert bei plötzlich schönstem Sonnenschein den neuen, wieder niederländischen Sieger des Norderneyer Inselschwimmens, und ihren Mann. Und auch der Dritte des Rennens ist ihr ein bekanntes Gesicht. Denn Diego Quintero sei zwar für den deutschen Verein Highlander gemeldet, lebe aber eigentlich im niederländischen Amersfoort, raunt sie. Drei Niederländer vorne auf Norderney.
Nach den Monoflossenschwimmern nähern sich die Flossenschwimmer dem Ziel am Surfhafen der Insel, 67 an der Zahl. Das größte Teilnehmerfeld stellen aber die sogenannten Barfuss-Schwimmer und -Schwimmerinnen. Insgesamt 198 erreichen am Schluss die heißersehnte gelbe Boje 1, die endlich letzte für die Athleten, im Wasser vor Norderney die erste. Der Erste: Andreas Niedrig von den Rückenwind Geckos Dortmund. In 2 Stunden, 2 Minuten und 59 Sekunden hat er es ohne Flosse geschafft und war im Ziel einfach nur erledigt: “Nie mehr wieder”, war der allererste, atemlose Kommentar zum Publikum, kaum dass er den Fluten entstiegen war.
Diese spontane Bemerkung war wohl der Erschöpfung des ersten Augenblicks geschuldet und wurde sicherlich bald wieder revidiert vom Sieger. Sie zeigt jedoch deutlich, wie überaus schwierig das Inselschwimmen Norderney in der diesjährigen Ausgabe war. Denn darüber waren sich alle Schwimmer im Ziel einig: Hinter ihnen lag eine kabbelige See mit einem Wellengang, der es sehr schwer machte, sich zu orientieren. Dazu noch Wind, eine starke Strömung, anfangs noch nieseliger Regen, sehr salziges und auch kaltes Wasser, das irgendwann nach stundenlangem Schwimmen trotz Neoprenanzug zu spüren war. Ungemein erschwerte Bedingungen, Bestzeiten waren an diesem Tag einfach nicht machbar. Ganz im Gegenteil: Das ohnehin schon lange Rennen dauerte für die meisten im Starterfeld noch 30 bis 40 Minuten länger als normalerweise drin gewesen wäre.
Im Zielbereich ist mittlerweile das Gedränge groß, das große Feld der Barfuss-Schwimmer “läuft” ein, stürzt sich auf die bereitgestellten saftigen Wassermelonen, die dem salzigen und ausgetrockneten Mund so gut tun. Fertig, einfach nur fertig, sind die meisten. Aber auch ungemein erleichtert, es – wieder einmal – geschafft zu haben. Dann gilt es noch den gelben Chip für die Zeitmessung in den Eimer zu werfen, das blaue Waterboard, Geschenk des Sponsors Beco, entgegenzunehmen und sich beim roten Feuerwehrwagen mit einer kräftigen Dusche von oben das Salz vom Körper zu spülen. Vorbei!
Auch Claudia Brase macht sich zwischendurch Gedanken über ihren Mann: Ob er das durchhält? Er ist schon längst über der anvisierten Zeit. Morgens hatte er nur eine Banane gegessen, ob das nun langt? Mehr als zweieinhalb Stunden sind vorbei, sie sitzt an der äußersten Ecke auf den Steinen der Hafenmole und schaut auf’s Meer. Auf die vielen Arme, die kraulend aus dem Wasser steigen und sich wieder senken. Auf erschöpfte Schwimmer, auf Schwimmer, die orientierungslos sind und von den begleitenden DLRG-Booten wieder in die richtige Spur gelenkt werden. Alle haben sie die gleichen blauen Kappen mit dem Logo des Sponsors auf, kaum zu erkennen in den Wellen des graublauen Wassers. Wo bleibt er nur? Da, da ist er. Sie kann ihn tatsächlich wie erwartet am Schwimmstil schon von Weitem erkennen. Sie ist erleichtert: Er macht einen guten Eindruck. Und dann, nur wenige Minuten später, hat er es endlich geschafft. Er ist am Ziel, am Ziel seines längsten Rennens der Saison.
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Die Ergebnisse des Inselschwimmens der DLRG Norderney 2017 gibt’s hier. Was am Ende des sportlichen Tages übrig blieb? Viel Watt!