Wenn Anfang Juli das Schützenfest in Esens startet, ist die so beschauliche Kleinstadt an der Nordseeküste regelmäßig im Ausnahmezustand. Dann beginnt die „Fünfte Jahreszeit“, in der am Montag sogar alle Ämter und Geschäfte schließen. Das Esenser Volksfest ist die zweitgrößte Veranstaltung dieser Art in Niedersachsen – nur in Hannover gibt es noch eine größere. Veranstalter ist die Schützencompagnie Esens von 1577, aus deren Namen schon hervorgeht, auf welch einmalig alte Tradition der Verein verweisen kann.
Unglaubliche 440 Mal feiert Esens sein sommerliches Schützenfest nun, in diesem Jahr vom 7. bis zum 11. Juli. 2021 wäre es dann die Schnapszahl 444, die es zu bejubeln gilt. Was auch schon mal einen ersten Hinweis darauf gibt, worum sich das Fest im Wesentlichen dreht: um viel, viel Alkohol.
Da ist das Esenser Schützenfest im Prinzip auch nicht anders als das weltweit so bekannte Oktoberfest in München. Wie auch sonst sich das Konzept mit anderen Freiluftevents dieser Art in Deutschland vergleichen lässt wie etwa den Cannstadter Wasen in Stuttgart oder dem Darmstädter Heinerfest. Um einen zentralen Rummelplatz mit Karussell, Riesenrad, Autoscootern drapieren sich alle Arten und Sorten von Schaustellern mit Los-, Schieß- und Imbissbuden sowie mehrere Zelte mit Programm, Essen und Trinken.
Nur das mehr marschiert wird: nach dem abendlichen Fackelzug am Freitag durch die Stadt folgt am Samstag dann der Marsch vom Markt zum Festplatz, am Sonntag gibt’s den Aufmarsch der Vereine durch die Innenstadt und am Montag als Höhepunkt Böllerschüsse und Marschmusik um 5:30 Uhr plus anschließendem Morgenappell der Bürgermeisterin, denn hier ist eine Dame Herrin inmitten der traditionsbeseelten Herrenrunde. Was das Schützenfest in Esens jedoch eigentlich besonders macht, ist die Verbindung alter Tradition mit dem Zeitgeist unserer Tage.
Schon Wochen vorher ziehen wahre Heerscharen von Ostfriesen beiderlei Geschlechts ins Schützenhaus am Festplatz und messen sich untereinander beim Club- und Betriebeschießen. Zum Schießen geht eigentlich jeder in der Umgebung, viele gleich mehrfach. In manchen Jahren sind es 7.000 und mehr. Dazu muss man nicht Mitglied in einem Schützenverein sein, noch nicht Mal Erfahrung mit einem Gewehr haben, sondern lediglich Mitglied einer Gruppe sein, die mindestens drei Personen umfasst und sich einen mehr oder weniger originellen Namen gegeben hat. Da messen sich Nachbarn an der schwarzen Scheibe, geben Sportskollegen einen Schuss ab, trifft man sich nach der Arbeit beim Betriebsausflug zum fröhlichen Schießen. Nur früh genug anmelden muss man sich zu dem Spaß, die Plätze sind rasch ausgebucht. Seit Neuestem geht das auch online. Im Prinzip kann jeder mitmachen, auch Touristen und Gäste. Als Zugereister empfiehlt es sich vielleicht, nicht unbedingt den Königsschuss zu machen, denn das Schießen ist eine ernste Angelegenheit und man will es sich mit seinen Gastgebern ja nicht gleich verscherzen…
Am Ende kommt der Proklamateur, der die Ergebnisse verkündet und den neuen König oder die neue Königin der geselligen Runde kürt. Das ist auch der eigentliche Show-Act des Programms, denn das Schießen selber ist banal: Ein Schuss und das war’s. Mit Können oder mit Glück bringt man Kimme und Korn übereinander und trifft ins Schwarze – oder eben auch nicht.
Der oder die Beste zu sein verpflichtet, mindestens zum Spendieren vieler Runden an das Volk. Dafür darf man sich dann aber auch ein Jahr lang Majestät nennen und eine lange Kette als sichtbares Zeichen des Sieges auf der Brust präsentieren. Auf jeden Fall kann sich mit dem Ritual des Schießens irgendwie jeder als Schütze fühlen, bekommt somit eine Art Absolution zum Feiern auf dem Schützenfest und Startberechtigung für fünf tolle Tage, die mittlerweile 90.000 Besucher anziehen. Sogar ein Ostfrieslandkrimi von Autor Manfred C. Schmidt, nicht ganz so bekannt wie Klaus-Peter Wolf aber auch immer lesenswert, spielt rund um das große Fest von Esens: In „Gut Schuss“ kommt es zum knallharten Showdown auf dem Schützenplatz und im Zelt des Schützenkönigs.
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