Nirgendwo kann man den Kräften des Kosmos so nahe kommen wie am Wattenmeer. Gewaltige Wassermengen werden hier ständig in Bewegung gesetzt im ewigen Wechsel zwischen Ebbe und Flut. Verantwortlich für das von der UNESCO zum Weltnaturerbe geadelte Naturspektakel in Ostfriesland und entlang einer insgesamt 400 Kilometer langen Küstenlinie ist unser Erdtraband: der Mond. Denn dessen Anziehungskräfte, die auf den Erdmittelpunkt und seine Ränder unterschiedlich stark einwirken, sind im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass sich auf der Erde immer zwei Flutberge gleichzeitig bilden.
In der Welt der Physik, einer vom Forschungsministerium des Bundes geförderten Expertenplattform im Internet, wird das kosmische Kräftespiel ganz genau erklärt:
Der eine Flutberg ist auf der mondzugewandten Seite der Erde zu finden. Dort ist die Anziehungskraft des Mondes an der Erdoberfläche größer als im Mittelpunkt der Erde, so dass sich ein Flutberg bildet. Der andere Flutberg befindet sich auf der mondabgewandten Seite der Erde. Das Wasser dort ist am weitesten entfernt vom Mond und wird nicht so stark angezogen wie die Erde unter ihm – es baut sich ein zweiter, etwas kleinerer Flutberg auf. In den Bereichen zwischen den beiden Flutbergen ist Niedrigwasser. Dort saugt die Flut das Wasser weg, es entsteht die Ebbe.
Die Gezeiten entstehen also durch Kräftedifferenzen: Je nachdem, wo sich der Betrachter befindet, unterscheidet sich die Anziehungskraft des Mondes von der, die im Erdmittelpunkt herrscht. Die roten Pfeile in der Abbildung deuten die resultierende Gezeitenkraft an.
Oft falsch dargestellt: Die Fliehkraft der Erde ist nicht von Bedeutung
Die Fliehkraft der Erde spielt wie oft fälschlich dargestellt bei dem Entstehen von Ebbe und Flut keine entscheidende Rolle. Dann schon eher Faktoren wie die Neigung der Erdachse oder die Neigung der Erdumlaufbahn zur Bahn des Mondes. Auch ist die Geografie der jeweiligen Küste oder die Wassertiefe von großer Bedeutung. So ist der Tidehub am Mittelmeer oder in den Ozeanen kaum wahrzunehmen, während er an der flachen ostfriesischen Küste besonders stark zu spüren ist. Er ist der höchste der Nordsee und beträgt im Schnitt zwischen 2,80 und 3,50 Meter. In ostfriesischen Buchten kann der Abstand zwischen Ebbe und Flut sogar auf 4,50 Meter steigen.
Sehr wichtig für den Wechsel der Gezeiten, auch Tide genannt, ist dagegen die Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Die zwei Flutberge wandern dadurch über die Erde. Es würde also genau 24 Stunden dauern bis die zwei gleichen Punkte auf dem Globus wieder dem Mond zu- und abgewandt sind und jeweils einen Flutberg aufweisen. Doch auch der Mond ist in Bewegung und wandert täglich ein Stück weiter um die Erde. So kommt es, dass der Abstand zwischen der genauen Wiederkehr desselben Flutberges länger ist und genau 24 Stunden und 50 Minuten beträgt. Da stets zwei Flutberge über den Erdball laufen, haben wir daher zwischen den Höchstständen des Wassers einen Zeitabstand von genau 12 Stunden und 25 Minuten. Bei einem Hochwasser befinden wir uns in der mondzugewandten und beim anderen in der mondabgewandten Phase.
Und welche Rolle spielt die Sonne?

Nicht nur die Anziehungskraft des Mondes, sondern auch die der Sonne hat einen Einfluss auf Ebbe und Flut. Aufgrund der großen Entfernung zur Erde – 400 Mal größer als die zum Mond – ist der Einfluss der Sonne jedoch wesentlich geringer als der des Erdtrabanten. Doch je nachdem wie Sonne, Mond und Erde zueinander positioniert sind, verstärkt die Sonne die Gezeiten oder schwächt sie ab. Wenn die drei Himmelskörper in einer Linie stehen – bei Neu- oder Vollmond – verstärkt sich die Wirkung der Gezeiten. Es entstehen Springtiden mit besonders hoher Flut und besonders niedriger Ebbe. Bei Halbmond tritt der gegenteilige Effekt ein, es kommt zu Nipptiden mit schwacher Ausprägung von Flut und Ebbe.
Soweit die physikalische Theorie. Am Schönsten lässt sich die gewaltige kosmische Kraft des Mondes jedoch in der freien Natur erleben. Es ist immer wieder ein Wunder! Einfach zu einer Wattwanderung bei Ebbe starten, beispielsweise mit den Nationalparkführern vom Wattwanderzentrum in Harlesiel. Da spürt man am Besten und am eigenen Leibe, wie sich die Erde wieder Richtung nächstem Flutberg dreht. Am stärksten ist dieser Effekt bei einer Wanderung zu einer Insel zu spüren, wenn es zurück mit einer Fähre über das mit Wasser gefüllte Wattenmeer und genau über die Strecke geht, die man eben noch zu ebener Erde wandernd bewältigt hat. Das Staunen nimmt kein Ende.