Herken Oelrichs war zu seiner Zeit einer der besten Klootschießer Ostfrieslands. Es war 1912 als er den weitesten Wurf machte im legendären Lokalderby Ostfriesland gegen Oldenburg und damit seiner Mannschaft zu Sieg, Ruhm und Ehre verhalf. Das entspricht nach heutigem Maßstab dem Weltmeistertor von Mario Götze bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Mindestens. Von dem großen Moment zeugt heute noch eine alte Photographie auf der sieben Männer, festlich in schwarze Anzüge gewandet, ernst und stolz in die Kamera schauen. Links im Bild steht die Fahne Ostfrieslands, zu Füßen der Herren liegen zwei kleine Kugeln und darunter geschrieben steht: „Die Sieger und Bahnweiser von Ostfriesland im Klootschießen gegen Butjadingen vom 7. Februar 1912.“
Für Nicht-Ostfriesen sollte an dieser Stelle kurz erklärt werden, worum es sich beim Klootschießen eigentlich dreht. Es handelt sich dabei um ein Wurfspiel zwischen zwei Mannschaften, das im Norden Deutschlands und in den Niederlanden schon seit vielen Jahrhunderten gespielt wird. Laut Friesischem Klootschießerverband – ja, den gibt’s – soll es sogar der älteste Sport der Welt sein.
Der Name Kloot stammt von dem niederdeutschen Kluten, was so viel wie Erdklumpen bedeutet. Heute ist der Klumpen eine Kugel, heißt aber immer noch Kloot und muss bei einem Durchmesser von 58 mm genau 475 Gramm wiegen. Außen hat die Kugel einen Mantel aus Buchenholz, dieser ist in drei Richtungen kreuzweise durchbohrt und der Hohlraum innen mit Blei gefüllt. Das Geschoß spielt übrigens auch eine entscheidende Rolle in einer sehenswerten Krimikomödie des ZDF von 2016: Friesland: Klootschießen.
Beim Klootschießen geht es nun darum, eben diese Kugel möglichst weit zu werfen. Das hört sich einfacher an als gedacht, dazu bedarf es einer ganz speziellen Wurftechnik. Nach einem Anlauf von etwa 25 Metern folgt eine komplizierte Kombination aus Bein- und Armbewegungen, in deren Verlauf der Werfer eine Rampe hinaufspringt, den Wurfarm weit nach hinten reißt und in einer Bewegung von fast 360 Grad den Kloot von unten nach vorne schleudert und dabei die volle Wucht der Sprungbewegung in den Wurf mitnimmt. Das rasante Geschleudere und Gedrehe von Arm und Schulter, auch Flüchterschlag genannt, muss die Rotorenmanschette erst einmal überstehen.
Scheint aber Spaß zu machen, sonst wären nicht so viele dabei. Ein Zentrum der ostfriesischen Nationalsportarten ist bis heute auch der Ort, aus dem der einst siegreiche Herken Oelrichs stammte. Utgast hat rund 350 Einwohner. Mindestens die Hälfte davon sind beim örtlichen Verein, der „Fresena“ Utgast e.V., aktiv. Auch der langjährige Weltrekordhalter im Klootschießen, Gerd Gerdes, stammt aus dem kleinen Dorf in der Nähe von Esens. 1935 warf er den Kloot sagenhafte 101,50 Meter weit. Ein Rekord, der erst fünfzig Jahre später eingestellt werden sollte. Ihm zu Ehren fand dann auch der große Feldkampf zwischen Ostfriesland und Oldenburg 2012 in seinem Heimatort statt.
Denn bis heute treten die Auswahlmannschaften Ostfrieslands und Oldenburgs regelmäßig gegeneinander an. Diese Begegnung ist jedes Jahr der Höhepunkt aller Wettkämpfe der Saison. 2012, genau 100 Jahre nach dem Siegeswurf von Herken Oelrichs für Ostfriesland, gewannen übrigens die Oldenburger den traditionellen „Nationen-Cup“ im Klootschießen. „2000 Zuschauer“ – so die Ostfriesen-Zeitung – „erlebten den Krimi von Utgast“.
Klootschießen ist eine Sportart, die nur bei Frostwetter ausgetragen wird. Die Felder und Weiden müssen richtig festgefroren sein, um auf ihnen spielen zu können. Beim Feldkampf wird eine Strecke von etwa sieben Kilometern über Felder und Wiesen durchgeworfen. Jede Mannschaft besteht aus mehreren – meist sieben – Werfern und wirft nacheinander gegeneinander. Der Punkt, an dem die Klootkugel nach dem Ausrollen, dem „Trüllen“, liegen bleibt, markiert die nächste Abwurfstelle. Den Wettkampf begleiten zahlreiche Rituale. So müssen beide Mannschaften mit dem angesetzten Termin, der festgelegten Strecke und den Regeln für die Punktevergabe einverstanden sein. Obligatorisch ist auch das Aufhängen des Klootes beim Gegner. Das ist sichtbares Zeichen der Herausforderung zum Wettkampf. Wenn der Gegner die Kugel abreißt, dann gilt der Wettkampf als angenommen. Nur wenige Stunden später geht es los und es erschallt die Trompete als Signal und Warnung zu jedem Wurf.
Neben dem Feldkampf gibt es beim Klootschießen auch noch den Standkampf. Hier spielen nicht zwei Mannschaften auf fortlaufender Strecke, sondern alle Teilnehmer gegeneinander an einem Abwurfpunkt. Sieger ist der Werfer, der am weitesten wirft. Der Trüll wird hierbei nicht mitgezählt, es wird also nur die tatsächlich geworfene Weite angerechnet. Der Standkampf wird häufig von Vereinen für Meisterschaften eingesetzt.
Besonders erfolgreich in dieser Disziplin war Stefan Albarus, der mit einem Wurf von 106,20 Metern in 1996 bis heute amtierender Weltrekordhalter im Klootschießen ist. Er hat aber nicht nur mit diesem Rekordwurf Sportgeschichte geschrieben. Vor allen Dingen bleibt sein Europatitel von 2000 in Erinnerung, bei dem es ihm gelang, in drei Würfen jeweils über die magische Grenze von 100 Metern zu werfen. Das ist vorher und nachher keinem Sportler gelungen. Albarus hat für den KBV “Noorden” e.V. gespielt, 2011 seine Karriere beendet und lebt heute in Alamogordo in den USA. Eine Ehrentafel im stadtgeschichtlichen Teil des Norder Teemuseums erinnert an seine herausragenden Leistungen.
Die Rahmenbedingungen für den eiskalten Sport des Feldkampfes waren gestern wie heute eher ungemütlich. Heute gibt auf glattem Untergrund eine Anlaufmatte dem Klootschießer Halt. Vor hundert Jahren musste der Anlauf noch mühsam von Eisplatten befreit und gerade geschabt werden. Auch war die Sportbekleidung damals noch nicht so ausgefeilt wie heute. Früher warf man “up’t Ünnerst”. Das heißt, „bis auf das Unterste entkleidet“. Die Werfer spielten nur mit langer Unterhose und mit Unterhemd. Auch Herken Oelrichs warf 1912 in Unterwäsche. Gegen die Kälte half dann der Schnaps. Mit dem hielt man sich ein wenig warm und schützte sich vor einer Lungenentzündung, die als Gefahr immer tödlich im Raum stand.
Heute schützen den Werfer die laborgeprüften Ultra-High-Tech-Fasern der Sportindustrie vor ähnlichen Gefahren, doch Schnaps ist immer noch ein wichtiger Begleiter der friesischen Outdoor-Veranstaltungen im Winter.